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Der blaue Tod

Der blaue Tod

Titel: Der blaue Tod
Autoren: Boris Meyn
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nicht, mit wem sie es zu tun haben? Dieses unmanierliche Benehmen können Sie unter Ihresgleichen   …»
    «Aber meine Damen», unterbrach Sören. Eine solche Situation hatte er in der Kanzlei noch nicht erlebt. «Sind Ihre Anliegen wirklich so dringend, dass es zu einer solchen Szene kommen muss?» Er warf Fräulein Paulina, die hinter ihm Schutz gesucht hatte, einen fragenden Blick zu. «Hat eine der Damen einen Termin?»
    Fräulein Paulina schüttelte energisch den Kopf.
    «Gut, gut.» Er blickte auf die große Standuhr hinter dem Empfangstisch. «Sie haben durchaus Glück, meine Damen», verkündete er, «dass ich heute die Zeit aufbringen kann, mich um Ihrer beider Anliegen zu kümmern. Eigentlich ist es unumgänglich, vorher einen Termin zu vereinbaren.» Er blickte den beiden Frauen nacheinander streng in die Augen. «Schauen wir also, wie ich Ihnen beiden weiterhelfen kann. Vorausgesetzt, Sie begraben jetzt sofort Ihre Streitigkeiten um den besten Startplatz. Andernfalls sehe ich mich genötigt, Ihnen eine Unterredung zu einem anderen Zeitpunkt anzubieten.»
    Die beiden Frauen blickten sich etwas hilflos an, nickten aber schließlich zustimmend.
    «Ich schlage vor», meinte Sören, wobei er die jüngere Frau – sie mochte knapp zwanzig sein und stammte der einfachen Kleidung nach zu urteilen aus dem Arbeitermilieu – freundlich anlächelte, «wir lassen dem Alter den Vortritt?» Natürlich war es taktlos, eines derFrauenzimmer als alt zu bezeichnen, aber einen uneingeschränkten Triumph wollte er der anderen Besucherin dann doch nicht gönnen. Der Vorschlag verfehlte seine Wirkung nicht. Fast zeitgleich nickten die beiden ihm zu. Die Jüngere grinste, die Ältere hatte die Spitze offenbar nicht bemerkt und marschierte an Sören vorbei in sein Büro.
    «Wenn Sie der Dame in der Zwischenzeit einen Tee und einige Biskuits anbieten würden?» Sören zwinkerte Fräulein Paulina zu und schloss die Tür. «Nun», sagte er, nachdem er der Frau einen Sitzplatz angeboten hatte, «wie kann ich Ihnen behilflich sein?»
    «Kann ich voraussetzen», begann seine Besucherin, während sie sich umschaute, als wenn sie kontrollieren wollte, ob die Tür auch wirklich geschlossen sei, «ich meine, kann ich mich wirklich darauf verlassen, dass Sie unser Gespräch absolut vertraulich behandeln?» Sie fingerte nervös einen Fächer aus ihrer bestickten Tasche und wedelte sich Luft zu.
    Erst jetzt betrachtete Sören die Frau genauer. Sie mochte Mitte dreißig sein, war gertenschlank und trug ihre rotbraunen Haare zu einer aufwändigen Frisur hochgesteckt. Irgendwie kam sie Sören bekannt vor, und obwohl er sich sicher war, sie schon einmal gesehen zu haben, wusste er sie nicht einzuordnen. Sie hatte auffallend schmale Lippen, ein markantes, kantiges Kinn, und ihre Mundwinkel zuckten nervös. Unter der fast porzellanweißen Haut schimmerten blaue Äderchen hindurch. Nur auf der spitzen Nase zeichneten sich einige Sommersprossen ab. Um die Augen hatte sie bereits einige Fältchen, sonst hätte man sie durchaus zehn Jahre jünger schätzen können. Dass sie aus gutem Hause war, ließ sich nicht übersehen. Ihre schlanken Finger warenmit teuren Ringen besetzt. Sie trug eine aufwändig bestickte Bluse und einen langen, dunkelgrauen Rock mit passender Jacke.
    «Die Angelegenheit ist sehr delikat, sie ist mehr als delikat   … Ich muss wirklich auf absolutem Stillschweigen Ihrerseits bestehen.»
    Sören versuchte, ihre Augenfarbe zu bestimmen, aber ihre Iris war fast farblos. Nur ein zaghaftes, helles Grau zeichnete sich um die winzigen Pupillen ab. «Wenn Sie mir erst einmal darlegen würden, worum es überhaupt geht, kann ich Ihnen sicher erläutern, inwieweit ich meiner Arbeit diskret nachgehen kann.» Er blickte sie fragend an.
    «Um es kurz zu machen: Es geht um ein Kind. Ein Kind, das vor einundzwanzig Jahren geboren wurde. Ein Kind, das nicht sein durfte. Ein vorehelicher Fehltritt   … meiner Schwester. Das Kind wurde von meinem   … von unserem Vater weggegeben. Er hat dafür bezahlt.» Sie begann wieder heftiger mit dem Fächer zu wedeln.
    Sören nickte langsam und schob einige Stifte auf der Schreibunterlage hin und her. «Ein Kostkind also», meinte er schließlich. «Und in welcher Beziehung benötigen Sie einen Advokaten? Stellt das Kind irgendwelche Ansprüche gegenüber   … Ihrer Familie?»
    Die Frau schüttelte den Kopf und versteckte ihr Gesicht nun fast ganz hinter dem Fächer. «Nein. Wie soll ich es
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