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Der blaue Tod

Der blaue Tod

Titel: Der blaue Tod
Autoren: Boris Meyn
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überlegte, ob die Zahl der Straftaten tatsächlich zugenommen haben mochte. Seiner eigenen Überzeugung nach war die gestiegene Kriminalitätsrate eher darauf zurückzuführen, dass die Obrigkeit nunmehr auch Bagatelldelikte verfolgte. Häufig genug Vorfälle, bei denen früher schon mal ein Auge zugedrückt wurde, wenn niemand wirklich zu Schaden gekommen war. Aber jetzt? Seitdem das städtische Polizeikorps umstrukturiert worden war, observierte man gezielt die arme Bevölkerung und die Arbeiterschaft. Vor allem die Sozialdemokraten waren der Obrigkeit ein Dorn im Auge. Ganze Trupps in Zivil gekleideter Polizeispitzel beobachteten Kaschemmen und Spelunken zu jeder Tages- und Nachtzeit. Die zunehmende Streikbereitschaft der organisierten Arbeiterschaft tat ihr Übriges. Seit demMeldezwang, den man im Mai letzten Jahres eingeführt hatte, war alles noch viel schlimmer geworden. Kein Wunder also, dass jede Kleinigkeit zur Anzeige gelangte. Sören war davon überzeugt, dass diese Entwicklung auch in Zukunft anhalten würde. Wahrscheinlich würden eher noch mehr Verbrechen in den Statistiken auftauchen, denn zum Ende des Jahres sollte die Polizeibehörde vollständig neu organisiert werden. Die Stadt würde damit endlich auch eine selbständige Kriminalpolizei erhalten, was längst überfällig war. Sörens Vater, Hendrik Bischop, hatte sein Leben lang für die Einrichtung dieser Institution gekämpft. Ergebnislos. Jetzt sollte es also Wirklichkeit werden.
    Sören nickte still in sich hinein. Nein, er benötigte keine weitere Bedenkzeit. Das Angebot, das Senator Hachmann ihm vor zwei Monaten gemacht hatte, klang zwar verlockend, aber sein Entschluss stand fest. Noch in dieser Woche würde er den Senator davon unterrichten, dass er für die Leitung der neuen Kriminalpolizei nicht zur Verfügung stand. Er konnte sich bis heute nicht erklären, wie Hachmann gerade auf ihn gekommen war. Gut, er hatte vor sechs Jahren als ermittelnder Staatsanwalt mit Sonderbefugnis des Senats einige Erfolge verbuchen und einen sehr komplizierten Fall lösen können. Aber seither hatte er ausschließlich als Advokat gearbeitet. Sein Entschluss war vor allem dadurch begründet, dass er als Leiter der Kriminalpolizei gleichzeitig auch Chef der Politischen Polizei hätte sein müssen. Und die Zielrichtung dieser Institution erschien Sören äußerst fragwürdig. Die Spitzel und Vigilanten der Politischen, deren Personal in letzter Zeit stark ausgebaut wurde, sollten gezielt gegen sozialdemokratische Umtriebe eingesetzt werden. Aber Sören war sich sicher,dass damit die Unzufriedenheit in der Arbeiterschaft nur noch geschürt wurde. In den Gassen der Gängeviertel gärte es bereits bedrohlich. Sören seufzte und dachte an seinen Vater. Vielleicht war es gut, dass der diese Entwicklung nicht mehr miterlebte. Hendrik Bischop war vor fünf Jahren im biblischen Alter von 85 gestorben. Er war friedlich eingeschlafen.
    Eine lautstarke Auseinandersetzung im Vorzimmer riss ihn aus seinen Gedanken. Es kam selten vor, dass Mandanten bereits im Vorzimmer die Nerven verloren, aber bei dieser Hitze lagen bei allen die Nerven blank. Bislang war Fräulein Paulina, die schon seit mehr als einem Jahr für die Anmeldung und einen großen Teil der Korrespondenz im Hause zuständig war, mit solchen Situationen noch stets alleine zurechtgekommen. Diesmal gelang es ihr anscheinend nicht; aufgebracht stürmte sie in Sörens Arbeitszimmer.
    «Herr Dr.   Bischop, wenn Sie vielleicht einmal nach vorne kommen könnten?» Ihre Stimme klang hilflos. «Ich fürchte, die beiden Damen kratzen sich gleich die Augen aus   …!»
    Eiligen Schrittes begab Sören sich zur Tür. «Nun, meine Damen», sagte er. «Worum geht es denn hier?» Vor ihm standen sich zwei Frauen in unmanierlichem Abstand gegenüber und warfen sich giftige Blicke zu. Eine von ihnen hielt drohend einen Sonnenschirm in der erhobenen Hand und schnaufte aufgebracht vor sich hin. Sie mochte einige Jahre älter sein als ihre Kontrahentin, obwohl man beide Frauen noch als jung bezeichnen konnte. «Also?»
    «Diese respektlose Person   …!», keifte die Ältere der beiden und deutete auf die andere, die ihr sogleich ins Wort fiel.
    «Was heißt hier respektlos? Ich habe Ihnen sogar freundlich die Tür aufgehalten!» Sie blickte zu Sören. «Und nun behauptet sie, vor mir an der Reihe zu sein! So geht das ja wohl nicht!»
    «Eine Unverschämtheit ist das!» Die andere stampfte mit dem Fuß auf. «Sie wissen wohl
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