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Der Bienenfresser

Der Bienenfresser

Titel: Der Bienenfresser
Autoren: Niklaus Schmid
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Es war eine Frau in einem langen Gewand, sie trug etwas Weißes in den ausgestreckten Armen, und ihre Füße, so sah es im Mondlicht jedenfalls aus, schienen den Boden kaum zu berühren.
    Auch sie verschwand wie durch Zauberhand.
    55.
    Jetzt waren wir am richtigen Platz.
    Eine Höhle am Rande der Steilküste. Den Eingang, das rund etwa zwei Meter große Loch in der Felsplatte, konnte ich erst erkennen, als ich unmittelbar davor stand. Um den Einstieg zu erleichtern, hatte man Felsbrocken übereinander gestapelt. Ich lauschte, konnte aber außer dem Wind und der fernen Brandung nichts hören. Vorsichtig tastete ich mich mit den Füßen voran. Als ich den obersten Stein berührte, stach mir gleißendes Licht in die Augen.
    »Ticket!«, forderte eine Stimme.
    Ich stützte mich am Lochrand ab und langte in die Tasche.
    Die Tatze, die mein Handgelenk umklammerte, mochte einem Bären gehören oder einem Fischer, der ein halbes Leben lang Thunfische mit bloßen Händen gefangen hatte. Als das Geld, das ich aus der Tasche gefischt hatte, im Schein der Lampe sichtbar wurde, entspannte sich die Situation und die fremde Hand ebenfalls.
    »Bueno, puede entrar.«
    Ich ließ mich auf den Boden hinab. Die Lampe erlosch, und nachdem sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, bot sich ihnen ein fantastischer Anblick.
    Die Höhle war groß wie ein Saal, gut mannshoch und hatte eine Öffnung, einem riesigen Panoramafenster gleich, zum Meer. Hinter dem Höhlenausgang gab es einen Felsvorsprung, eine Art Balkon, der spitz zulief und direkt über dem Wasser zu schweben schien.
    Auf diesem Balkon stand eine Frau in einem langen weißen Kleid. Es war Dora.
    Die Männer vor mir, deren Rücken ich nur sah, kauerten auf dem Boden, hockten auf Felsbrocken und blickten wie gebannt zum Höhlenausgang, wo jetzt zwei Fackeln angezündet wurden. Die flackernden Flammen beleuchteten eine zweite Frau, die nun auf Dora zuging und ihr einen schwarzen Schal um die Augen band. Beim nächsten Mal reichte sie Dora ein Huhn, dessen Beine und Flügel gefesselt waren. Die Frau setzte die Klinge an, und durch die Geruchsmischung aus Erde, Männerschweiß und abgebrannten Kräutern glaubte ich, auch das Hühnerblut riechen zu können.
    Es war eine ebenso gespenstische wie eklige Szene, wohl aber noch nicht der Höhepunkt der Veranstaltung. Denn jetzt wurde in der vordersten Reihe der Zuschauer eine
    Videokamera aufgebaut. Es war Gerry, der in der Pose eines Regisseurs Anweisungen gab. Neben ihm stand Terry, heute ganz in Schwarz gekleidet, und assistierte.
    Musik ertönte, elektronische Töne aus einem Kassettengerät.
    Dora begann sich in den Hüften zu wiegen, sie machte kleine Schritte, drehte sich und kam so dem Abgrund immer näher.
    Mir stockte der Atem. Ich schätzte, es waren noch zwei, höchstens drei Meter. Die Frau, die ihr das Huhn gereicht hatte, rief etwas und Dora blieb stehen.
    Dafür arbeitete ich mich jetzt nach vorne. In den Gesichtern der Männer, an denen ich mich vorbeidrängte, spiegelte sich Geilheit und Sensationsgier, vielleicht passierte es ja, hoffentlich. Hochseilartisten spielen mit diesem geheimen Wunsch der Zuschauer, wenn sie als Höhepunkt ihres Auftritts einen fehlgesetzten Schritt vortäuschen, schon wanken und in scheinbarer Not mit den Armen rudern, sich dann aber doch noch mit einem Griff zum Seil vor dem Absturz retten können.
    Aber dies hier war kein Spiel, vor allem war Dora keine Artistin, ihr fehlte das Geschmeidige, sie war eine Marionette.
    Jetzt war sie noch einen Schritt vom Abgrund entfernt. Ein Windstoß konnte genügen. Das Licht des Leuchtturms zuckte über sie hinweg. Ich hatte Angst, um sie, um mich selbst.
    Irgendetwas musste ich jetzt tun.
    Zum Angriff übergehen, das war das Beste. Ich drängte mich an Gerry heran, der so sehr mit seiner Kamera beschäftigt war, dass er mich erst im letzten Moment erkannte.
    »Ah, unser Messerheld, was haben wir denn diesmal vor?«
    »Ich werde zu dem Mädchen gehen, sie an die Hand nehmen und mit ihr die Höhle verlassen, einfach weg-ge-hen.«
    »W-w-weggehn, unser Komiker. Scheiße wirst du mit ihr weggehen. Guck dich um, willst du die Männer etwa um ihren Spaß bringen? Die haben richtiges Geld bezahlt. Die aufgegeilten Burschen werden dich zerfetzen oder die Klippe runterwerfen.«
    Dies war nicht der Zeitpunkt für Antworten, für Diskussionen erst recht nicht.
    Ich nahm die erste Fackel aus der Halterung, ich nahm die zweite, dann begann ich zu jonglieren.
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