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Der Beweis des Jahrhunderts

Der Beweis des Jahrhunderts

Titel: Der Beweis des Jahrhunderts
Autoren: Masha Gessen
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Sache im Leben dieser Kinder, etwas anderes lässt Rukschin erst gar nicht zu. Sie verbringen den größten Teil ihrer freien Zeit damit, über die gestellten Aufgaben nachzugrübeln, dahinein stecken sie alle ihre Gefühle und ihre ganze Energie – nicht unähnlich einem gewissenhaften Mitglied der Anonymen Alkoholiker, der am Zwölf-Schritte-Programm teilnimmt und es sich auch zwischen den Sitzungen immer wieder vergegenwärtigt, indem er die einzelnen Schritte niederschreibt. Während der Übungen legen die Kinder ihre Gedanken offen, und zwar vor den Menschen, die ihnen am meisten bedeuten; sie tun das, indem sie vor der ganzen Gruppe erzählen, wie sie auf ihre jeweilige Lösung kamen.
    Reicht das, um Rukschins beispiellosen Trainingserfolg zu erklären? Er selbst schwankt, schwankt wie so viele unsichere Menschen zwischen Selbsterniedrigung und Selbstüberhöhung; mal sagt er von sich, er sei nur ein mittelmäßiger Mathematiker, dann wieder, und das gleich fünf Mal in drei Tagen, dass ihm das Bildungsministerium in Moskau eine Stelle angeboten habe (die er jedoch ablehnte). Auch erzählte er mir mehrfach, dass seine Lehrmethoden reproduziert werden könnten und auch wurden, und zwar 50 mit spektakulären Ergebnissen: Seine Schüler verdienten Geld damit, Teilnehmer für Mathematikwettbewerbe im ganzen ehemaligen Sowjetblock auszubilden. Bei anderen Gelegenheiten erzählte er mir wiederum, er sei ein Zauberer, und in diesen Momenten schien er mir am aufrichtigsten. »Es gibt mehrere Stufen der Lehre«, sagte er, »zunächst die Stufe des Schülers, des Lehrlings, wie in einer mittelalterlichen Zunft. Dann kommt der Handwerker, der Meister – das sind die Stufen der Meisterschaft. Schließlich die Stufe des künstlerischen Schaffens. Aber jenseits dessen gibt es noch eine weitere Stufe, nämlich die der Zauberei. Sie hat mit Charisma und solchen Dingen zu tun.«
    Es kann durchaus sein, dass Rukschin mehr als andere Trainer vor und nach ihm ein Getriebener war. Er hatte selbst ein wenig mathematische Forschung betrieben, doch es hat fast den Anschein, als sei die Mathematik selbst nur ein Nebengleis, denn ihm ging und geht es nur um eines: Weltklassemathematiker für Wettbewerbe heranzuziehen. Das war und ist sein Lebenswerk. Eine derart unbeirrbare Leidenschaft kann tatsächlich wie Zauberei wirken und auch die gleichen Gefühle auslösen.
     
    Zauberer brauchen willige Subjekte, Menschen, die sich beeindrucken lassen, sonst funktioniert ihr Zauber nicht. Rukschin, der aus so vielen äußeren Gründen als Mathematiklehrer ziemlich ungeeignet war, hat nicht nur nach dem Wunderkind gesucht. Er wollte auch beweisen, dass er den besten Weg kennt, wie man aus einem Kind einen Mathematiker macht. Seine Aufmerksamkeit richtete er nicht auf den lautesten Jungen, nicht auf den am schnells 51 ten denkenden, nicht auf den ehrgeizigsten, sondern er konzentrierte sich auf den aufnahmefähigsten.
    Er habe, sagte mir Rukschin, Perelmans Geisteskraft nicht von Anfang an erkannt. 1976 nahm er als Juror an einigen Bezirkswettbewerben in Leningrad teil, dazu sah er viele Millimeterpapierblätter durch, auf denen Zehn- bis Zwölfjährige ihre Lösungen mathematischer Aufgaben notiert hatten. Er suchte damals nach Jungen, die es in der Mathematik zu etwas bringen könnten. Die ungeschriebenen Gesetze der Matheclubs erlaubten die Rekrutierung, aber nicht das Abwerben von Schülern aus anderen Clubs. Ein Unbekannter wie Rukschin musste also frühzeitig und aktiv nach geeigneten Kindern Ausschau halten. So kamen Perelmans Lösungen auf seine Liste. Die Antworten des Jungen waren richtig und manchmal war er auf unerwarteten Wegen zu ihnen gelangt. Rukschin fand in diesen Lösungen nichts, was diesen Jungen über andere erhob, aber er sah ein solides Versprechen. Als Professor Natanson bei Rukschin anrief und den Namen des Jungen nannte, wusste Rukschin, um wen es sich handelte. Und als er ihn schließlich zu sehen bekam, erkannte er, dass in diesem Kind mehr steckte, als nur ein guter Mathematiker zu werden. Der ehrgeizige Trainer sah in ihm die Erfüllung seines Lebenstraums: der beste Mathetrainer auf Erden zu werden. Dass er sein Urteil über Perelman so schnell änderte, muss von ihm verlangt haben, über seinen Schatten zu springen und etwas zu tun, was er bislang nicht getan hatte. Aber als Belohnung winkte eine einzigartige Entdeckung – dass dieser Junge, der so begabt schien wie Dutzende andere, alle anderen überholen
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