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Der Beweis des Jahrhunderts

Der Beweis des Jahrhunderts

Titel: Der Beweis des Jahrhunderts
Autoren: Masha Gessen
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würde.
    52 »Wenn alle Mathematik lernen und dann kommt einer, der lernt viel besser als die anderen, dann wird ihm unweigerlich auch mehr Aufmerksamkeit geschenkt: Der Lehrer besucht ihn zu Hause, er redet mit ihm über alles Mögliche, und so weiter.« Das berichtete mir Alexander Golowanow aus eigener Erfahrung: Er hatte nicht nur jahrelang mit Perelman studiert, sondern den größten Teil seines Lebens selbst Kinder und Jugendliche für Mathematikwettbewerbe trainiert. Er war Rukschins Kronprinz. Und jetzt erklärte er mir, was es bedeutet, einen Lieblingsschüler zu haben oder selber einer zu sein. Wie in allen menschlichen Beziehungen kann Liebe Hingabe bewirken, die dann dazu führt, dass man viel in die betreffende Person investiert, was wiederum die Hingabe vertieft und vielleicht sogar die Liebe. »Das ist eine Definition dessen, was ein Lieblingsschüler ist. Und das war Grischa: ein Lieblingsschüler. Denn er bekam mehr. Ein weiterer, sehr wichtiger Aspekt ist, dass jeder, der [Wettbewerbsmathematik] trainiert, ein klares Bewusstsein davon hat, wie viel er getan hat – wofür er Anerkennung verdient und wofür nicht. Da sind zum Beispiel Kinder, die drei- oder viermal bei der [Allrussischen] Olympiade dabei waren – und ich kann sagen, sie hätten, wenn ich sie nicht unterrichtet hätte, eher zwei- als dreimal teilgenommen. Ich war also nicht der Hauptgrund. Aber dann gab es auch welche, über die ich sagen kann, ja, bei denen war ich der Hauptgrund. Das soll nicht heißen, dass sie erbärmlich waren und ich ihnen alles eingetrichtert hätte. Was es aber heißt, ist Liebe. Und das empfindet Rukschin meines Erachtens für Grischa. Liebe. Und ich denke, er hat recht.« Golowanow spricht noch von einem dritten Aspekt, der einfach mit Nähe zu tun 53 habe. Rukschin war ein ausgeprägter Hypochonder; Golowanow, ein gebildeter Mann, vergleicht ihn mit Voltaire. »Im Laufe der Monate, in denen ich mit Rukschin in Kontakt stand, verbrachte er ein Drittel seiner Zeit in Krankenhäusern.« Einmal, so erinnerte sich Golowanow, drohte Rukschin zu erblinden: »Das war in einem Sommerlager, er und Grischa schliefen im gleichen Zimmer.« Perelman sei zu dieser Zeit bereits Student gewesen, habe damals aber auch als Rukschins Lehrassistent gearbeitet. »Eines Morgens sagte Rukschin, er sei überglücklich, weil er, als er aufwachte, Grischa im anderen Bett habe liegen sehen. Und es war nicht ganz klar, was ihm mehr gefiel: dass er überhaupt sehen konnte oder dass es Grischa war, den er sah.«
    Von einem bestimmten Zeitpunkt an seien es diese fürsorgliche Liebe zu Grischa und der Unterricht gewesen, die Rukschins Leben einen Sinn gaben, der sich im Gegenzug abgerackert habe, um Perelman auf die richtige Spur zu setzen. Er brachte ihn dazu, die Geige aufzugeben – das spöttische Lachen, mit dem er fast dreißig Jahre später darüber sprach, werde ich nicht vergessen. »Es ist der Traum aus dem Schtetl«, sagte er mit finsterem Gesicht, »lerne Geige und spiele auf Hochzeiten und Beerdigungen.«
    Wie alle Trainer im Bereich des Wettkampfsports sah es auch Rukschin nicht gern, wenn seine Jungs noch etwas anderes taten. Er habe, wie er sagte, Alexander Chalifman, den späteren Schachweltmeister, aus dem Club geworfen, weil dieser das Schachspielen nicht aufgeben, sich nicht eindeutig für die Mathematik entscheiden wollte. Und wie viele Trainer behauptet er bis heute, sein Sport sei der fairste, der ehrlichste und schönste von allen. Er hielt und 54 hält es für seine Aufgabe, auch darin gleicht er vielen anderen Trainern, nicht nur die kompetitiven Fähigkeiten seiner Schüler zu formen, sondern auch ihre Persönlichkeit. Wurde einer der älteren Jungen dabei ertappt, wie er ein Mädchen küsste – in den Augen Rukschins ein Akt würdeloser Zerstreuung –, so setzte er ihm unerbittlich nach. Er habe sie – wie Golowanow mir berichtete – mit derartiger Regelmäßigkeit erwischt, dass die Jungen den Verdacht nicht loswurden, er lasse sie von Spionen beschatten. 10 In dieser Hinsicht allerdings hat Perelman seinen Lehrer nie enttäuscht, denn er war, wie Rukschin mir mehrmals sagte, »nie an Mädchen interessiert«.
     
    Zweimal in der Woche ging Rukschin abends in Begleitung seiner Mathejungs und einiger Mädchen vom Pionierpalast zum Witebsker Bahnhof, wo er und Grischa in den gleichen Zug stiegen. Rukschin hatte früh geheiratet und lebte mit Frau und Schwiegermutter außerhalb Leningrads in der historischen
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