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Der Beweis des Jahrhunderts

Der Beweis des Jahrhunderts

Titel: Der Beweis des Jahrhunderts
Autoren: Masha Gessen
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für keines der Millennium-Probleme eine Lösung zu erwarten. Gleichwohl legte das Clay Mathematics Institute klare Regeln fest, nach denen jeder der Preise vergeben wird. Die erste entspricht den üblichen wissenschaftlichen Gepflogenheiten: Die Lösung muss in einer anerkannten Fachzeitschrift präsentiert werden. Dann folgt eine zweijährige Wartefrist, die Mathematikern aus aller Welt die Gelegenheit gibt, die Lösung zu prüfen und zu einem Konsens über ihre Richtigkeit und die Urheberschaft zu gelangen. Nach Ablauf dieser Frist soll in einem dritten Schritt ein Ausschuss eine abschließende Empfehlung für die Verleihung des Preises geben. Erst dann, viertens, wird das Institut die ausgesetzte Preissumme von einer Million Dollar freigeben. Es werde, so Wiles’ Schätzung, mindestens fünf Jahre dauern, bis die erste Lösung kommen werde – vorausgesetzt, irgendeines dieser Probleme werde überhaupt gelöst –, so dass das Verfahren keineswegs umständlich erschien.
    Und dann die Überraschung: Gerade einmal zwei Jahre später, nämlich im November 2002 , stellte ein russischer Mathematiker seinen Beweis für Poincarés Vermutung ins 11 Internet. Er war nicht der Erste, der behauptete, die Poincaré bewiesen zu haben – er war noch nicht einmal der erste Russe, der in ebendiesem Jahr einen angeblichen Beweis für die Vermutung ins Netz gestellt hatte –, doch wie sich herausstellte, war sein Beweis korrekt.
    Und nun lief nichts mehr nach Plan – weder nach dem des Clay Mathematics Institute noch nach irgendeinem anderen, den ein Mathematiker für vernünftig halten konnte. Grigori Perelman, der Russe, der sich im Internet gemeldet hatte, hatte seine Arbeit nicht in einer anerkannten Fachzeitschrift veröffentlicht. Er zeigte sich auch nicht bereit, die Erklärungen für seinen Beweis, die von seinen Kollegen kamen, zu prüfen oder auch nur durchzusehen. Er lehnte Angebote der besten Universitäten der Welt ab. Er nahm, als sie ihm 2006 verliehen werden sollte, die Fields-Medaille nicht an, die höchste Auszeichnung für Mathematiker (quasi der Nobelpreis für Mathematik, den Alfred Nobel nicht gestiftet hat). Und schließlich zog er sich nicht nur aus den mathematischen Fachdiskussionen zurück, sondern sprach auch sonst mit praktisch keinem Menschen mehr.
    Perelmans sonderbares Verhalten lieferte den Stoff, der der Poincaré-Vermutung eine Aufmerksamkeit verschaffte, wie sie wahrscheinlich keiner anderen Geschichte aus der Welt der Mathematik je zuteilgeworden ist. 3 Die unerhört hohe Preissumme, die er wohl zu erwarten hatte, tat das ihre, um das Interesse anzuheizen, dazu kam eine plötzlich aufkommende Plagiatskontroverse, als nämlich zwei chinesische Mathematiker behaupteten, eigentlich hätten sie mit ihrer Arbeit die Vermutung schon bewiesen. Je mehr Rumor aber um Perelman entstand, desto mehr 12 zog er sich selbst von allem zurück; sogar diejenigen, die ihn gut kannten, sagten, er sei »verschwunden«. Dabei lebte und lebt er nach wie vor in St. Petersburg, in der Wohnung, in der er bereits seit vielen Jahren wohnt. Gelegentlich ging er ans Telefon – aber nur um zu sagen, man möge ihn als tot betrachten.
     
    Als ich begonnen habe, an diesem Buch zu arbeiten, suchte ich Antworten auf drei Fragen: Warum war Perelman in der Lage, Poincarés Vermutung zu beweisen, das heißt: Was unterschied seinen Geist von dem all der anderen Mathematiker, die sich zuvor erfolglos an der Vermutung abgearbeitet hatten? Warum gab er, als er den Beweis gefunden hatte, die Mathematik und auch sonst fast alles auf? Schließlich: Würde er sich weigern, den Preis des Clay Mathematics Institute anzunehmen, obwohl er ihn verdient hat und das Geld sicher gut gebrauchen könnte? Und wenn ja, warum?
    Dieses Buch ist keine gewöhnliche Biografie. Ich habe keine längeren Gespräche mit Perelman geführt, ja, um die Wahrheit zu sagen: Ich habe überhaupt nicht mit ihm gesprochen. Als ich mit dem Projekt begann, redete er bereits nicht mehr mit Journalisten, und auch zu anderen Leuten hatte er so gut wie keinen Kontakt mehr. Dadurch wurde die Aufgabe, die ich mir gestellt hatte, nicht leichter – ich musste mir einen Menschen vorstellen, dem ich nie begegnet bin. Zugleich wurde sie aber auch interessanter: nämlich zu einer Erkundung, zu einer wirklichen Recherche. Zum Glück waren fast alle, die mit ihm und der Poincaré-Geschichte zu tun hatten, bereit, mit mir zu sprechen. Manchmal kam mir sogar der Gedanke, es sei
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