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Der Beweis des Jahrhunderts

Der Beweis des Jahrhunderts

Titel: Der Beweis des Jahrhunderts
Autoren: Masha Gessen
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leich 13 ter, über jemanden zu schreiben, der die Mitarbeit verweigert, denn ich musste mich nicht mit Perelmans eigener Darstellung, mit seinem Selbstbild auseinandersetzen. Ich musste nur herausfinden, was es war und was geschehen ist.

35 2 .
Wie Mathematiker gemacht werden
    Mitte der 1960 er Jahre bot Professor Garold Natanson einer Studentin namens Ljubow eine Doktorandenstelle an. Ein solches Angebot machte niemand so ohne Weiteres: Doktorandinnen sind bekanntlich unzuverlässig, werden irgendwann schwanger und lassen sich auch sonst durch alles Mögliche ablenken. Zudem war diese Studentin auch noch Jüdin. Professor Natanson musste also strategisch vorgehen, musste um die Unterstützung seiner Kollegen buhlen. In den Augen des Systems waren Juden noch unzuverlässiger als Frauen, und es gab ausgeklügelte Praktiken antisemitischer Diskriminierung, die die Kraft ungeschriebener Gesetze hatten. Natanson, der selbst Jude war, lehrte am Pädagogischen Institut Herzen, das in der Hierarchie unterhalb der Leningrader Staatsuniversität angesiedelt war und daher auch Juden als Studenten und Lehrer aufnehmen durfte – in »vertretbarem Umfang« oder was als solcher in der Nachkriegssowjetunion durchging. Die Studentin war schon älter, knapp dreißig, womit sie das für Frauen übliche Heiratsalter bereits ein gutes Stück überschritten hatte. Natanson konnte also annehmen, dass sie sich entschlossen hatte, ihr Leben der Mathematik zu widmen.
    Damit lag er nicht völlig daneben: Diese Frau war der Mathematik ganz und gar ergeben – und doch lehnte sie das großzügige Angebot ab. Sie erklärte, sie habe vor Kur 36 zem geheiratet und wolle eine Familie gründen. Sie nahm eine Stelle als Mathematiklehrerin an einer Berufsschule an und verschwand für mehr als zehn Jahre aus der Leningrader Mathematikszene.
    Zehn oder zwölf Jahre – das war in sowjetischer Zeitrechnung so gut wie nichts. In Leningrad wurden neue Wohnungen gebaut, und so konnten einige Familien die übervölkerte und verfallende Innenstadt verlassen und stattdessen in die Betonhochhäuser der Randbezirke ziehen. Kleidung und Lebensmittel waren nach wie vor knapp und von erbärmlicher Qualität, aber die Industrieproduktion zog etwas an, und so konnten sich die neuen Vorortbewohner immerhin halbautomatische Waschmaschinen und Fernsehapparate zulegen. Die vorgeblichen Schwarzweißfernseher zeigten aber meistens nur graue Schatten, also ein ziemlich genaues Bild der Lebenswirklichkeit. Ansonsten änderte sich wenig. Professor Natanson lehrte weiter am Herzen-Institut, an dem sich immer mehr Studenten drängten und dessen Gebäude nach und nach verfiel. Irgendwann tauchte seine ehemalige Studentin Ljubow wieder in seinem Büro auf. Sie war älter und auch ein bisschen fülliger geworden, hatte tatsächlich ein Kind bekommen, einen Jungen, der mittlerweile zur Schule ging und eine mathematische Begabung zeigte. Er hatte in einem der Neubaugebiete, in dem sie wohnten, an einem Mathematikwettbewerb teilgenommen und gut abgeschnitten. Im zeitlosen System der russischen Mathematik war er an genau dem Punkt angelangt, an dem seine Mutter ausgestiegen war.
    Natanson wird das, was ihm seine ehemalige Studentin erzählte, bekannt vorgekommen sein, stammte er doch 37 selbst aus einer Mathematikerdynastie: Sein Vater Isidor hatte das maßgebliche Analysis-Lehrbuch Russlands geschrieben und bis zu seinem Tod 1963 ebenfalls am Herzen-Institut unterrichtet. Ljubows Sohn kam in die fünfte Klasse – war also alt genug, um in einem System zu lernen, das geschaffen worden war, um Mathematiker hervorzubringen. Natanson hatte auch schon einen jungen Mathematiktrainer im Auge, zu dem er den Jungen und dessen Mutter schicken konnte.
    Das war der Beginn von Grigori Perelmans mathematischer Ausbildung.
     
    Die Wettbewerbsmathematik hat mehr mit Sport gemein, als man sich vielleicht vorstellt. Es gibt Trainer, Clubs, praktische Übungen und eben Wettbewerbe. Man muss gewisse natürliche Anlagen mitbringen, doch um zu gewinnen, reicht das nicht aus: Das begabte Kind braucht den richtigen Trainer, das richtige Team, angemessene Unterstützung durch die Familie und, was am meisten zählt, den Willen zum Sieg. Zu Beginn einer solchen Ausbildung lässt sich fast nie sagen, worin sich zukünftige Stars von jenen anderen unterscheiden, die zwar gut sein werden, aber nie herausragend.
    Im Herbst 1976 also stieß Grigori Perelman zum mathematischen Club im Leningrader Pionierpalast,
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