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Der Beutegaenger

Titel: Der Beutegaenger
Autoren: Silvia Roth
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das bald ändern würde.
    Die große gelbe Blüte erzitterte unter der Berührung, während sich seine Latexfinger langsam um den abgebrochenen Stumpf schlossen.
    Goldblume.
    Er hatte einmal gefunden, das passe zu ihrem Haar. Besser als die Rosen, die sie immer fortgeworfen hatte. Zuletzt sogar in seine eigene Mülltonne. Sie hatte darauf geachtet, dass er es sah, oben am Fenster. Sie mochte keine Rosen.
    Nun lagen also Chrysanthemen für sie im Kofferraum, Goldblumen . . .
    Eigentlich waren seine Vorbereitungen ja bereits im Frühjahr abgeschlossen gewesen, und er hätte beginnen können. Aber dann war ihm plötzlich klar geworden, dass im März keine Chrysanthemen zu bekommen waren. Bananen, Kiwis, Erdbeeren mitten im Winter – alles überhaupt kein Problem. Aber Chrysanthemen? Keine Chance! Chrysanthemen gab es nur im Herbst, nur einmal im Jahr. Und vielleicht war es gerade dieser Umstand, der sie so interessant machte. Er dachte eine Weile darüber nach. Natürlich hatten eifrige Botaniker längst herausgefunden, dass Chrysanthemen erst Knospen bildeten, wenn die Tage kürzer wurden, dass sie die Dunkelheit brauchten, um blühen zu kön nen, und selbstredend ließen sich solche Bedingungen in den Gewächshäusern, in denen sie wuchsen, simulieren. Technisch gesehen war das überhaupt kein Problem. Aber in den Köpfen der Leute waren Chrysanthemen nun einmal Herbstblumen, und also verkauften sie sich auch nur im Herbst. Außerhalb dieser Jahreszeit waren lediglich Nachzuchten zu bekommen, traurige Abarten, die nicht nach Chrysanthemen aussahen und ihm nicht weiterhalfen. Deshalb hatte er warten müssen. Einen ganzen Frühling und den ganzen Sommer lang. Oft hatte er seine Ungeduld nur mit Mühe im Zaum halten können. Aber er hatte gewartet. Und jetzt war es endlich so weit. Jetzt gab es Chrysanthemen.
    Sie mochte ja keine Rosen.
    Und keine Gedichte.
    Aber sie würde sich an ihn erinnern.
    Niemals zuvor war er sich einer Sache so sicher gewesen.
    Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und schob die Blüte in die Tasche seines Trenchcoats. Dann nahm er das Messer aus dem Aktenkoffer und ließ den Fingernagel seines rechten Daumens langsam und gewissenhaft über die blanke Schneide gleiten. Genau wie das Instrument eines Schächters wies sie keinerlei Scharten auf. Darauf achtete er. Es war wie eine Weihe. Ein heiliges Ritual.
    Er murmelte ein paar Worte, Erinnerungen hauptsächlich, und als er urplötzlich wieder den süß-metallischen Geruch wahrzunehmen glaubte, den er so sehr vermisst hatte, hob er die Klinge noch ein wenig näher an sein Gesicht. Ein paar Zentimeter nur. Nicht zu dicht. Er wollte nicht... Vor seinem inneren Auge blitzten Bilder auf. Ein schneller Halsschnitt, der die Weichteile bis zur Wirbelsäule durchschneidet wie Butter. Der Nervenschock und die plötzliche Stockung der Blutzufuhr zum Gehirn. Weit aufgerissene, irisierende Augen, ein höchst besonderes Grün mit einem Hauch von Gelb in der Mitte, dazu ein merkwürdiger Ton, ein leises Fauchen, nein, ein Zischen eher, als die Luft aus den kleinen Lungen entweicht.
    Er dachte einen flüchtigen Augenblick darüber nach, was für einen Laut die Frau, die er erwartete, wohl von sich geben würde. Vorher. Denn wenn ihr Fleisch mit dem Messer in Berührung kam, würde sie längst tot sein.
    Dann sah er wieder auf die Uhr und stellte fest, dass es Zeit war. Die Frau, der er gleich begegnen würde, tat alles, was sie tat, aus Gewohnheit. Fantasie war etwas, über das sie anscheinend nicht verfügte. Er wusste auf die Minute genau, wie lange sie für eine ihrer Runden brauchte. Oder für den Gang zum Bäcker.
    Er klappte den Aktenkoffer zu und verstaute ihn unter dem Beifahrersitz. Nur für den Fall, dass sich doch noch jemand anders an diesem trüben Nachmittag in den Wald verirrte. Jemand, der neugierig war. Den es aus unerfindlichen Gründen nicht so schnell wie möglich nach Hause und unter die Dusche trieb und der sich vielleicht eines Tages an einen Wagen erinnerte, nur, weil anstelle der obligatorischen Sporttasche ein Aktenkoffer auf dem Sitz gestanden hatte . . .
    Mit routiniertem Blick überprüfte er ein letztes Mal seine Umgebung im Hinblick auf mögliche Veränderungen. Etwas, das er übersehen hatte. Eine Gefahr. Doch er konnte nichts feststellen.
    Dann stieg er aus dem Wagen, ließ das Messer zu der Chrysantheme in seine Manteltasche gleiten und ging Susanne Leistner entgegen.

Normalerweise konnte Winnie Heller Spiegel nicht
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