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Der Beutegaenger

Titel: Der Beutegaenger
Autoren: Silvia Roth
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hinein.
    Sie sah sich nicht um. Nicht ein einziges Mal. Bevor sie den Kofferraum wieder schloss, nahm sie irgendetwas heraus. Er konnte nicht erkennen, was es war, aber es interessierte ihn auch nicht. Dann stieg sie ein und fuhr los.
    Er sah die Bremslichter aufleuchten, als sie an der Ausfahrt hielt, und ihm fiel auf, dass sie sich nicht angeschnallt hatte. Keine Sicherheit für die müde junge Mutter. Kein Netz unter dem Drahtseil, auf dem sie tanzte.
    Er startete den Wagen und folgte ihr in einiger Entfernung.
     
     
     
    Hendrik Verhoeven blickte starr geradeaus und versuchte vergeblich, das Cello zu überhören, das Ulla Grovius, die zweite Exfrau seines verstorbenen Kollegen, ans offene Grab ihres geschiedenen Mannes bestellt hatte. Er war fünfunddreißig Jahre alt, verheiratet, Vater einer kleinen Tochter und fühlte sich dennoch nackt und schutzlos wie ein Waisenkind. Zum zweiten Mal verwaist, dachte er und biss sich in die Wange, weil er das Gefühl hatte, dass etwas in seinem Gesicht außer Kontrolle zu geraten drohte. Am liebsten hätte er eine Sonnenbrille aufgesetzt, doch diese Form von Selbstschutz ließ das Wetter nicht zu. Düstere Wolkenfetzen trieben über den Himmel, und zum allerersten Mal in diesem Jahr roch es ein bisschen nach Winter.
    Verhoeven spürte, wie seine Wange zu bluten anfing. Ein unangenehm metallischer Geschmack auf der Zunge, der ihn an den Tod erinnerte, den plötzlichen, gewaltsamen Tod, mit dem er tagtäglich zu tun hatte. Trotzdem konnte er nicht aufhören zuzubeißen. Schmerz war etwas, das ihn ablenkte. Und er musste sich ablenken. Er musste bluten und die satten, melancholischen Schluchzer des Cellos überhören, die der frische Westwind unbarmherzig zu ihm herüberwehte. Irgendetwas Elegisches von Bach hatten sie bereits hinter sichgebracht. Jetzt stand So nimm denn meine Hände auf dem Programm. Die Musik verstärkte das qualvolle Gefühl, im Stich gelassen worden zu sein, das er mit sich herumtrug, seit Ulla vor exakt einer Woche mitten in der Nacht angerufen hatte, um ihm mitzuteilen, dass ihr Exmann im Badezimmer seiner Wohnung liege und sich nicht mehr rühre. Verhoeven hatte sich sofort ins Auto gesetzt und war zu dem schnörkellosen Mehrparteienhaus am Schiersteiner Hafen gerast, aber er war zu spät gekommen. Karl Grovius, der Mann, der ihn in sein Team geholt, ihn stets gefördert und gefordert hatte, war bereits tot gewesen. Schlaganfall, wie sich bei der späteren Untersuchung herausgestellt hatte. Mit dreiundsechzig Jahren. Wenn Verhoeven die Augen schloss, sah er sich wieder auf den nackten Fliesen knien, die eiskalten Hände in den Brustkorb des Mannes gestemmt, der sein Trauzeuge gewesen war, als er vor knapp fünf Jahren seine große Liebe geheiratet hatte. Er hört seinen eigenen keuchenden Atem und fühlt den Schweiß, den die Verbissenheit, das längst Verlorene noch retten zu wollen, auf seine Stirn treibt. Er sieht die bläulich angelaufenen Lippen und die hellgrauen Bartstoppeln auf den Wangen des anderen, die schonungslos dem klinischen Neonlicht preisgegeben sind, und registriert die polternden Schritte der Rettungssanitäter, die sich hinter ihm durch die Tür zwängen und ihn schließlich, als er auf ihre Aufforderungen nicht reagiert, einfach beiseiteschieben ...
    Verhoeven hob den Kopf und blickte sich in den Gesichtern seiner Kollegen um. Das halbe Polizeipräsidium schien an diesem trüben Oktobertag auf dem Wiesbadener Südfriedhof versammelt zu sein, um Karl Grovius die letzte Ehre zu erweisen. Hundertfünfzig Leute. Mindestens. Die meisten der Streifenkollegen trugen Uniform. Ansonsten überwogen die Farben Schwarz und Dunkelblau. Nur Ulla war in Weiß gekommen. Weiß von Kopf bis Fuß. In China und Japan sei daseine ganz offizielle Trauerfarbe, hatte sie ihm auf dem Weg von der Kirche hierher zugeraunt. Es hatte beinahe wie eine Entschuldigung geklungen.
    Burkhard Hinnrichs, der Leiter des Kommissariats 11 der zentralen Kriminaldirektion Wiesbaden, hatte dicht neben ihr Position bezogen und wirkte in seiner eleganten Kamelhaarjacke wie ein blasser, bebrillter Dressman. Er hielt die Hände lässig vor dem Bauch verschränkt und blickte unverwandt in die Grube vor sich, in die vor wenigen Minuten der Sarg von Karl Grovius hinabgesenkt worden war. Ein Stück hinter ihm stand Oskar Bredeney, einer der letzten Kollegen, die Grovius bereits während dessen Ausbildungszeit gekannt hatten. Er trug einen schwarzen Glattledermantel, in dem er wie
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