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Der Beutegaenger

Titel: Der Beutegaenger
Autoren: Silvia Roth
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den Passat auf den Parkplatz. Nur noch zwei weitere Wagen waren dort abgestellt, vermutlich ebenfalls von Joggern, denn für Spaziergänge war das Wetter eigentlich zu schlecht. Trotzdem konnte sich Susanne keineswegs sicher sein, dass sie jemandem begegnen würde. Der Parkplatz war Ausgangspunkt verschiedener Wald- undWanderwege. Forststraßen, Rundwege, eben oder steigungsreich, für Mountainbiker geeignet oder nicht – es gab Dutzende von Möglichkeiten.
    Sie betätigte die Scheibenwischer. Hier im Wald schien es noch immer zu regnen. Dicke Tropfen fielen aus den Kronen der Bäume herab und zerbarsten mit dumpfen Schlägen auf der Windschutzscheibe. Der regennasse Schotter blieb an den Reifen kleben, wurde hochgerissen und spritzte knirschend gegen den cognacfarbenen Lack. Einen kurzen Augenblick lang war Susanne versucht, den Wagen zu wenden und einfach nach Hause zu fahren.
    Nach Hause. Warum nur zog sie nichts dorthin? Zuhause war doch ein Ort, an dem man sich gern aufhielt, auf den man sich freute, wenn man einen anstrengenden Tag hinter sich hatte. Ein Ort, nach dem man sich sehnte, sobald man nicht dort sein konnte. Zu Hause. Wo war das? War sie schon einmal dort gewesen?
    Um nicht weiter über diese unbequemen Fragen nachdenken zu müssen, lenkte sie den Passat auf den hinteren Teil des Parkplatzes, gleich neben den Weg, den sie nehmen wollte. START stand auf dem morschen Holzschild, das an einer rustikalen Kette quer über dem Weg baumelte. In ihrem Rücken markierte ein ähnliches Schild mit der Aufschrift ZIEL das Ende des rund vier Kilometer langen Trimmparcours. Normalerweise lief Susanne den Rundkurs zweimal hintereinander, an guten Tagen auch noch ein drittes Mal. Heute allerdings, das wusste sie bereits jetzt, würde sie es bei einer Runde bewenden lassen. Wozu dann überhaupt die Mühe? , meldete sich eine Stimme in ihrem Kopf. Eine einzige Runde... Was willst du damit beweisen?
    Entschlossen schaltete sie den Motor ab, nahm ihren Walkman vom Beifahrersitz und stieg aus dem Wagen. Es duftete würzig nach nasser Erde und Laub. Sofort griff die klammeKühle des Waldes nach ihren nackten Unterarmen und ließ sie leise frösteln. Sie sah sich noch einmal kurz nach den anderen Autos um, die verwaist unter den Bäumen standen. Dann machte sie ihren Walkman an und lief los. Über ihrem Kopf wölbten sich die Äste der Bäume wie eine Kuppel. Darüber war der Himmel noch immer einheitlich grau. Fast schien es, als wolle schon die Dämmerung anbrechen ...
     
     
     
    Er hatte zunächst einige Minuten mit abgestelltem Motor am Straßenrand vor der Einfahrt zum Waldparkplatz gewartet. Jetzt drehte er den Zündschlüssel und fuhr langsam um die Biegung.
    Ihr Wagen stand am entgegengesetzten Ende. Etwas weiter zur Straße hin waren noch zwei andere Autos geparkt. Doch das störte ihn nicht weiter. Er wählte eine Stelle hinter einer Buschgruppe, um den Wagen abzustellen, und schaltete den Motor aus.
    Aus dem Aktenkoffer auf dem Beifahrersitz nahm er die Perücke. Sie war von guter Qualität. Naturhaar, selbstverständlich. Nicht gerade billig. Aber zweifellos eine lohnende Investition. Er klappte die Sichtblende herunter, auf deren Rückseite sich ein kleiner Spiegel befand, und setzte die Perücke auf. Sie stand ihm. Sein Gesicht war von einer eigentümlichen Schönheit. Er dachte an die Frauenblicke, die es streiften, auf der Straße, im Supermarkt, im Park. Es war die Weichheit, die sie anzog. Frauen mochten weiche Dinge. Kuschelpullis. Katzen. Und die meisten Menschen glaubten, was sie sahen. Das machte es so leicht. So berechenbar. Und so entsetzlich langweilig.
    Er warf einen letzten kritischen Blick in den Spiegel. Dann öffnete er das Handschuhfach und nahm die Chrysantheme heraus. Diejenige, die er für diesen Zweck ausgewählt hatte. Die anderen lagen im Kofferraum. Für später. Sie waren ein Geschenk. Das Geschenk für eine alte Freundin. Genau wie die Frau, der er gleich begegnen würde.
    Als er den Stängel dicht unterhalb der Blüte abbrach, bemerkte er, dass er lächelte. Er blickte wieder in den Spiegel, um sich zu vergewissern, dass er sich nicht irrte, aber er lächelte tatsächlich. Es sah fremd aus, dieses Lächeln, anders als das, das er zu Hause vor dem Spiegel geübt hatte, nachdem man ihm ein paar Mal vorgeworfen hatte, er sei immer so ernst. Es wirkte . . . Ja, dachte er, es sieht echt aus. Zugleich wunderte er sich, dass er nichts fühlte. Aber er hoffte zuversichtlich, dass sich
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