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Der Besuch

Der Besuch

Titel: Der Besuch
Autoren: H.G. Wells
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Gestalten um die Ecke und wurden sichtbar. Der Vikar, Arm in Arm mit ...
    Sie sehen schon, es brach ganz plötzlich über die Frau des Hilfsgeistlichen herein. Da der Engel ihr das Gesicht zuwandte, sah sie nichts von den Flügeln. Nur ein Gesicht von überirdischer Schönheit, umrahmt von kastanienbraunen Haaren und eine anmutige Gestalt, die in ein safrangelbes Gewand gekleidet war, das kaum bis zu den Knien reichte. Wie ein Blitz durchzuckte der Gedanke an diese Knie den Vikar. Auch er war vor Entsetzen starr. Und die zwei Mädchen und Mrs. Jehoram ebenfalls.
    Alle waren starr vor Entsetzen. Der Engel blickte erstaunt auf die vor Entsetzen starre Gruppe. Bedenken Sie, er hatte nie zuvor jemanden gesehen, der vor Entsetzen starr war.
    „Mis – ter Hillyer!“ sagte die Frau des Kuraten. „Das ist zu viel!“ Einen Augenblick stand sie sprachlos da. „Oh!“
    Sie eilte hinüber zu den starren Mädchen.
    „Kommt!“ Der Vikar machte seinen stummen Mund auf und zu. Die Welt summte und drehte sich um ihn herum. Zephirwollene Röcke wirbelten, und vier erregte Gesichter glitten auf das offene Tor des Weges zu, der durch den Pfarrhof führte. Es war ihm, als fliehe seine Stellung mit ihnen.
    „Mrs. Mendham“, sagte der Vikar und schritt nach vorne. „Sie fassen das falsch auf ...“
    „Oh!“ sagten sie alle noch einmal.
    Ein, zwei, drei, vier Röcke verschwanden im Torweg. Der Vikar schwankte über die Hälfte des Rasens und blieb entgeistert stehen. „Das kommt davon“, hörte er die Frau des Kuraten in einiger Entfernung sagen, „wenn man einen unverheirateten Vikar hat.“ Der Schirmständer wackelte. Die Vordertür des Pfarrhauses krachte wie ein Signalgeschütz. Eine Zeitlang herrschte Stille.
    „Ich hätte es mir denken können“, sagte er.
    „Sie ist immer so voreilig.“
    Er legte die Hand ans Kinn – eine Gewohnheit von ihm. Dann wandte er das Gesicht seinem Gefährten zu. Der Engel war offenbar wohlerzogen. Er hielt Mrs. Jehorams Sonnenschirm hoch – sie hatte ihn auf einem der Rohrsessel zurückgelassen – und untersuchte ihn mit Interesse. Er öffnete ihn. „Welch merkwürdiger, kleiner Mechanismus!“ sagte er.
    „Wofür kann das sein?“
    Der Vikar antwortete nicht. Das Engelsgewand war sicherlich – der Vikar wußte, daß hier eine bestimmte französische Redewendung angebracht wäre, aber sie fiel ihm nicht ein. Er sprach so selten Französisch. Es war nicht de trop, das wußte er. Alles andere als de trop. Der Engel war de trop, aber sicher nicht sein Gewand. Ah! Sans culotte!
    Der Vikar prüfte kritisch seinen Besucher –
    das erste Mal. „Man wird ihn schwer erklären können“, sagte er leise zu sich.

    Der Engel steckte den Sonnenschirm in den Rasen und ging, um an den Zaunrosen zu riechen. Der Sonnenschein fiel auf sein braunes Haar und verlieh ihm beinahe das Aussehen eines Heiligenscheins. Er stach sich in den Finger. „Seltsam!“ sagte er. „Wieder Schmerz.“
    „Ja“, der Vikar dachte laut. „So ist er sehr schön und merkwürdig. So hätte ich ihn am liebsten. Aber ich fürchte, es wird sich nicht vermeiden lassen.“
    Mit einem nervösen Räuspern näherte er sich dem Engel.

11
    „Das“, sagte der Vikar, „waren Frauen.“
    „Wie grotesk“, sagte der Engel, lächelte und roch an den Zaunrosen. „Und solch seltsame Gestalten!“
    „Möglicherweise“, sagte der Vikar. „Haben Sie, hm, bemerkt, wie sie sich benommen haben?“
    „Sie sind weggegangen. Es schien tatsächlich, als liefen sie weg. Erschrocken? Ich bin natürlich erschrocken beim Anblick von Wesen ohne Flügel. Ich hoffe – sie haben sich nicht vor meinen Flügeln gefürchtet?“
    „Es war Ihr Aussehen im allgemeinen“, sagte der Vikar und warf unwillkürlich einen flüchtigen Blick auf die rosafarbenen Füße.
    „Du meine Güte! Daran habe ich nicht gedacht. Ich nehme an, ich bin ihnen ebenso seltsam vorgekommen wie du mir.“ Er blickte flüchtig nach unten. „Und was meine Füße betrifft. Du hast Hufe wie ein Hippogryph.“
    „Stiefel“, berichtigte ihn der Vikar.
    „Stiefel nennt ihr sie! Jedenfalls aber tut es mir leid, daß ich Angst ...“
    „Wissen Sie“, sagte der Vikar und strich über sein Kinn, „unsere Frauen, hm, haben eigentümliche Ansichten – ziemlich unkünstlerische Ansichten – über, hm, Kleidung. So wie Sie angezogen sind, fürchte ich, fürchte ich wirklich
    – so schön Ihr Gewand auch sicher ist –, daß Sie sich etwas, hm, etwas isoliert in der
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