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Der Besuch

Der Besuch

Titel: Der Besuch
Autoren: H.G. Wells
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Künstler, der ihm sogar recht ähnlich ist, was Gesicht und Ausstrahlung anbelangt.) Er war schlicht in eine purpurdurchwirkte safrangelbe Bluse gekleidet, die Knie bloß und barfüßig und seine Flügel, jetzt gebrochen und von bleigrauer Farbe, waren hinten zusammengeschlagen. Der Vikar war klein und eher beleibt, mit einer etwas rötlichen Gesichtsfarbe, roten Haaren, glattrasiert, und mit hellen fuchsbraunen Augen. Er trug einen scheckigen Strohhut mit einem schwarzen Band, eine sehr geschmackvolle weiße Krawatte und eine Uhrkette aus reinem Gold. Er war so sehr an seinem Gefährten interessiert, daß ihm erst in Sichtweite des Pfarrhauses einfiel, daß er das Gewehr im Farnkraut einfach dort, wo es hingefallen war, liegengelassen hatte.
    Es freute ihn zu hören, daß der Schmerz im bandagierten Flügel rasch an Intensität verlor.

9
    Reden wir offen! Der Engel dieser Geschichte ist der Engel der Kunst, nicht jener Engel, den man nicht berühren kann, ohne ehrfurchtslos zu sein – auch nicht der Engel der religiösen Gesinnung und ebensowenig der Engel des Volksglaubens. Letztere kennen wir alle. Dieser Engel ist der einzige unter den Engelsscharen, der eindeutig weiblich ist: Er trägt eine Robe von unbeflecktem, reinem Weiß, mit weiten Ärmeln, ist blond, hat lange goldene Haarlocken und Augen so blau wie der Himmel. Er ist einfach eine reine Frau, eine reine Jungfrau oder eine reine Mutter, mit seiner robe de nuit und den an den Schulterblättern angebrachten Flügeln. Seine Aufgaben sind häuslicher Natur und durch Anteilnahme gekennzeichnet, er wacht über einer Wiege oder hilft einer Schwesternseele in den Himmel. Oft trägt er einen Palmzweig, aber man wäre gar nicht erstaunt, würde man ihn dabei antreffen, wie er gerade einem armen frierenden Sünder behutsam einen Bettwärmer bringt. Er war es, der in einer Engelsschar zu Gretchen ins Gefängnis herunterkam, in der erweiterten letzten Szene des „Faust“, im Lyzeum; und in den Romanen der Mrs. Henry Wood haben die ansprechenden und ständig an Vollkommenheit gewinnenden Kinder, die jung sterben müssen, Visionen von solchen Engeln. Diese reine Weiblichkeit mit dem unbeschreiblichen Zauber einer Heiligkeit, die an Lavendel erinnert, dem Flair eines sauberen, planvollen Lebens, ist, so könnte man nach allem annehmen, eine rein germanische Erfindung. Die lateinische Tradition kennt sie nicht; die alten Meister schufen nichts, was ihr ähnelte. Sie gehört zur selben Art wie die Werke jener sanften, damenhaften Kunstrichtung, deren triumphalste Wirkung in „einem Würgen in der Kehle“ besteht, und in der Witz und Leidenschaft, Verachtung und Gepränge keinen Platz haben. Der reine Engel wurde in Deutschland erfunden, in dem Land der blonden Frauen und häuslichen Gefühle. Er tritt uns kühl und anbetenswürdig entgegen, rein und still, ebenso leise lindernd wie die Weite und Ruhe des sternenklaren Himmels, welcher der germanischen Seele ebenfalls so unsagbar teuer ist ... Wir bringen ihm Verehrung entgegen. Und die Engel der Hebräer, diese mächtigen und rätselhaften Wesen, Raphael, Zadkiel und Michael, die nur ein Watts schattenhaft erfaßt hat, deren Herrlichkeit nur ein Blake gesehen hat, die verehren wir auch.
    Aber dieser Engel, den der Vikar abschoß, ist, das betonen wir, keineswegs einer von diesen Engeln, sondern der Engel der italienischen Kunst, farbenfroh und heiter. Er kommt aus dem Land der schönen Träume und nicht von irgendeinem heiligeren Ort. Bestenfalls ist er ein papistisches Geschöpf. Üben Sie daher geduldig Nachsicht mit seinen verstreuten Schwungfedern, und seien Sie nicht voreilig mit Ihrem Vorwurf der Häresie, bevor Sie die Geschichte nicht zu Ende gelesen haben.

10
    Die Frau des Kuraten, ihre zwei Töchter und Mrs. Jehoram spielten noch immer auf dem Rasen hinter dem Arbeitszimmer des Vikars Tennis. Sie spielten recht eifrig und sprachen keuchend über Blusenschnittmuster. Aber darauf hatte der Vikar vergessen, und deshalb kam er auf diesem Weg heran.
    Sie erblickten den Hut des Vikars über den Rhododendronbüschen und neben ihm, ein lockiges Haupt ohne Kopfbedeckung. „Ich muß ihn über Susan Wiggin ausfragen“, sagte die Frau des Kuraten. Sie war gerade dabei zu servieren und stand da, mit dem Schläger in der einen und dem Ball in der anderen Hand. „Er hätte eigentlich wirklich gehen und sie besuchen sollen – denn er ist der Vikar. Nicht George. Ich – Ah!“ Denn plötzlich bogen die beiden
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