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Der bessere Mensch

Der bessere Mensch

Titel: Der bessere Mensch
Autoren: G Haderer
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und alle anderen Syndrome gegen diesen Menschen? Bruchstücke, Banalitäten, business as usual. Hier konnten sie Geschichte schreiben: Sie konnten das Böse nicht nur festmachen in eineinhalb Kilo Hirnmasse – sie konnten auch einen Weg finden, es zum Guten zu wandeln.
    „Was ich mir nicht erklären kann“, wandte Schäfer ein, „warum hat ihn nie jemand erkannt? Der war im Fernsehen, in allen Zeitungen … und Ihren Aussagen zufolge hatte er nach zwei Jahren durchaus Kontakt zu anderen Personen …“
    „Zum einen bewegte er sich hauptsächlich unter Leuten, die in ihrer Wahrnehmung schwer beeinträchtigt waren. Dann wirkt sich die Veränderung des affektiven Zustandsbilds eines Menschen auch auf seine Gesichtszüge aus … Sie selbst haben ja aus dem Phantombild, das veröffentlicht wurde, auch nie auf Paul geschlossen, oder?“
    Schäfer und Kamp sahen sich an. Nein, keine Sekunde hatte es einer von ihnen für möglich gehalten, dass Kastor noch lebte. Nachdem er sich eine Kugel in den Kopf geschossen hatte und von den Ärzten für tot erklärt worden war? Was wir uns nicht vorstellen können, sehen wir zumeist auch nicht.
    Ob denn alle Menschen mit derartigen Gehirnschäden zu Verbrechern würden, unterbrach Bergmann Hofers zunehmend selbstverliebte Ausführungen. Und ob bei jedem Verbrecher ein Gehirnschaden nachzuweisen sei.
    Nein, gab Hofer zu und machte abermals eine lange Pause. Nein, diesem Irrglauben seien sie aber womöglich verfallen. Oder, was wahrscheinlicher war: Sie wussten es, natürlich wussten sie es, alles andere wäre angesichts der bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse paradox, doch mit Kastor … womöglich war er wie ein Stein der Weisen für sie gewesen, der heilige Gral der Neurobiologie, dessen Ausstrahlung jegliche Vernunft verblendete, der alle bisherigen Erkenntnisse in den Schatten stellen würde … ab dem Zeitpunkt, da ihnen klar war, dass Kastor überleben würde, war der Weg ohnehin vorgegeben. Hätten sie ihn denn ausliefern sollen und ihre Karriere damit an den Nagel hängen? Oder ihn auswildern wie ein Tier? Was für ein Wahnsinn das gewesen wäre, allein schon aus wissenschaftlicher Sicht! Kastor war … wie das Serum, aus dem man einen Impfstoff gegen HIV gewinnen kann … er war ein lebendiges Versprechen für eine Zukunft ohne … Ohne was? Ohne das Böse?, fragte Kamp. Hofer wich aus. Sie hatten die Verantwortung für ihn übernommen, und deshalb mussten sie weitermachen. Sie hatten die Verantwortung für ein Projekt, das man nicht so einfach beenden konnte, das müssten sie doch verstehen. Und die Verantwortung für die beiden Morde in Wien? Würde er die auch übernehmen, wollte Kamp wissen. Worauf Hofer keine Antwort geben konnte.
    Dann kam das Gespräch auf Anke Gerngross. Als Kastors Heilungsprozess zumindest aus medizinischer Sicht abgeschlossen war, war sie es, die zunehmend die Initiative übernahm. Was ihnen wohl lieber war, als sie sich eingestehen wollten. Kastors sensomotorische Fähigkeiten waren voll entwickelt, er ging laufen, betrieb Krafttraining, und auch sein intellektuelles Vermögen steigerte sich schneller als erwartet. Was seine Affekte betraf, konnten sie sich noch kein eindeutiges Urteil bilden: Im Umgang mit den anderen Patienten gab es keinerlei Konflikte, was darauf hindeutete, dass auch die Erziehung, die sie ihm gaben, Früchte trug. Bienenfeld begegnete er sogar mit Emotionen, die man als Zuneigung bezeichnen konnte; doch abgesehen davon blieb er kontaktscheu und gerne allein. Sie stellten fest, dass er so etwas wie ein normaler Mensch geworden war. Und damit verlor er in ihrem Fachgebiet auch zunehmend an wissenschaftlichem Wert. Da standen sie: zwei alte Männer, ausgelaugt und ohne Umkehrmöglichkeit. Sie hatten etwas vollbracht, was noch nie zuvor jemand anderem gelungen war – zumindest nahmen sie das an –, und nun mussten sie mit der Tatsache leben, dass sich ihr Projekt auflöste, ohne Spuren in der Medizingeschichte zu hinterlassen. Wie hätten sie denn weitermachen können? Kastor gefälschte Papiere, einen Arbeitsplatz und eine Wohnung verschaffen? Das ist das, was man gemeinhin Resozialisierung nennt, meinte einer der Untersuchungsrichter trocken. Ja, womöglich, erwiderte Hofer leise und versank in Schweigen. Schäfer ahnte, was er fühlte, welches Licht ihm aufging: Dass sie Kastor – oder das, was an Material von ihm übrig geblieben war – wie eine Maschine repariert hatten; einen Pinocchio geschaffen, ohne
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