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Der Ausflug

Titel: Der Ausflug
Autoren: Renate Dorrestein
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pausenlosen, endlosen Kreuzverhör konnte kein Mensch standhalten.
    Wurde sie schon mürbe?
    Sie sah ihn ruhig an und sagte: »Du bist lächerlich, weißt du das?«
    Aber diese Ruhe war nur Schein. Ihre Lippen bebten. Sie war weiß geworden wie das Shirt, das sie trug, und der Schweiß war ihr ausgebrochen. Ihre Augen drehten sich weg. Sie öffnete den Mund, als schnappe sie nach Luft. Und dann glitt sie seitlich vom Stuhl, auf dessen Kante sitzend sie wieder den ganzen Abend trotzig geschwiegen hatte, und landete mit einem dumpfen Plumps auf dem Boden, zu seinen Füßen.
    Einen Moment lang hatte er gedacht, das wäre Absicht. Dass sie sich aus purem Frust auf den Boden warf, so wie Toby es immer machte, wenn er sich überfordert fühlte. Dass sie ihn jetzt bei den Fußgelenken fassen und ihn anflehen würde, mit dieser Folter aufzuhören.
    Die Erinnerung ging ihm so nahe, dass er hinter dem Ladentisch hervorkommen und durch den Laden tigern musste. Es mochte ja stimmen, dass selbst im Gehirn einer kerngesunden, fitten Frau wie Veronica spontan ein Blutgefäß platzenkonnte, aber erhöhte sich diese Wahrscheinlichkeit nicht um ein Vielfaches, wenn die Betreffende unaufhörlich gepiesackt, gequält und unter Druck gesetzt wurde? Im letzten Moment ihres Lebens musste sie gedacht haben: Laurens treibt mich lieber in den Tod, als damit aufzuhören.
    Und warum? Einzig und allein, weil er die ganze Geschichte auf sich bezogen hatte. Weil er, in der Tat, nur an sich selbst gedacht hatte. Und nach ihrem Tod hatte er das gewissermaßen fortgesetzt. Er hatte sie eigenhändig aus ihrem Grab gezerrt und einen rachsüchtigen Geist aus ihr gemacht.
    Auch in der Hinsicht hatte Leander Recht gehabt. Er hatte seine Frau nicht in Liebe losgelassen, er hatte ihr keine Ruhe gegönnt. Im Gegenteil. Na komm, Veronica, zahl es mir heim. Denn wenn Rechnungen beglichen wurden, wurde letztlich Schuld getilgt, so war es doch, und das war der springende Punkt. Strich hindurch. Aus der Welt.
    Vor dem Fenster blieb er stehen und starrte nach draußen. Der Hof lag verlassen da. Auch die Straße am Kanal wirkte wie ausgestorben. Es war ein grauer Tag. So ein Tag, an dem die meisten Menschen am liebsten drinnen blieben. Ihr hatte das Wetter nie etwas ausgemacht. Sie hätte heute mit Vergnügen einen langen Spaziergang gemacht und wäre zurückgekehrt mit einer Erzählung über Brachvögel, die sie auf einer überschwemmten Wiese gesehen hatte, oder über eine Gruppe ungewöhnlicher Schwäne, Höckerschwäne könnten es nicht gewesen sein, sie seien viel schlanker gewesen, vielleicht Singschwäne, die aus dem fernen Lappland gekommen seien, um hier zu überwintern.
    Ihn übermannte erdrückende Reue. Zwölf Jahre lang war sie seine Verbündete gewesen, sein kluges, wunderschönes, witziges Mädchen. Sie war mit ihm in See gestochen und hatte ihn auf Kurs gehalten, sie hatte ihn geneckt und ausgelacht, es war kein Tag vergangen, an dem sie ihn nicht zu verblüffen gewussthatte, sie hatte ihn bis ins Mark erwärmt, sie hatte ihm das Pokern beigebracht und wie man Oberhemden bügelte, und sie hatte immer vorbehaltlos hinter ihm gestanden, in ihrem kornblumenblauen Kleid. Und er war noch nicht einmal ihrem Andenken gerecht geworden.
    Nach der Beerdigung hatte Gwen gesagt: »Komisch, so ein unerwarteter Tod, als ob es vorherbestimmt gewesen wäre.«
    Doch selbst wenn es tatsächlich unumstößlich festgestanden hatte, dass es seiner Veer vorherbestimmt war, an einem Frühlingsabend vorzeitig einem Schlaganfall zu erliegen, hätten sie in dem Moment auch zärtlich zusammen im Bett liegen können. Das war der Punkt.
    Er kniff die Augen zusammen, damit die Tränen herausliefen, und ging zu dem Regal, auf dem Bobbie immer den Honig so kunstvoll auftürmte. Er nahm sich ein Glas Thymianhonig, gut für die Atemwege. Am Ladentisch zog er sein Portemonnaie hervor, zählte den passenden Betrag heraus und tat das Geld in die Kasse. Dann steckte er das Glas in die Tasche und machte einen Strich auf Bobbies Block.
    Die Räumung der Bienenweide hatte Gwen stärker zugesetzt, als sie erwartet hätte. Unter den kahlen Linden lief sie missmutig an den Beeten entlang, in denen jedes Frühjahr Skimmien, Goldlack und Mahonien geblüht hatten, jeden Sommer Kornblumen, Lavendel, Goldruten und Natternkopf und im Herbst Erika, Schleierkraut und viele, viele Astern, purpurn mit gelben Herzen: Für alles eine eigene Jahreszeit. Alles war so übersichtlich gewesen. Beinahe so, als
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