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Der Augenblick der Wahrheit

Titel: Der Augenblick der Wahrheit
Autoren: Leif Davidsen
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Arbeits-noch eine Aufenthaltsgenehmigung besaß, sondern die Meerenge von Gibraltar überquert hatte, um in der reichen und doch so krisengeplagten EU sein Glück zu machen.
    Madrids Vorstädte gehören zu den häßlichsten der Welt. Sie sind geradezu sowjetisch in ihrer Ungeheuerlichkeit. Sie wachsen in großen schwarzen Zeilen aus der Stadt heraus, und es ist kaum vorstellbar, daß sie ein pulsierendes Zentrum umkränzen, in das heimzukehren ich mich immer aufs neue freute.
    Wie gewöhnlich war ich nach Erledigung eines Auftrags ein wenig leer und ein kleines bißchen deprimiert. Nicht ernsthaft, aber mit einem Gefühl von Blues. Daß etwas überstanden und vorüber war; mit der Gewißheit, daß die vergangene Sekunde nie wiederkehrte, war man dem Tod einen Schritt nähergekommen. Als wir die Innenstadt erreichten und am Postamt auf der Plaza Cibeles in die Plaza Santa Ana einbogen, waren die Straßen völlig verstopft. Ein paar hundert Meter vor dem Platz steckten wir hoffnungslos im Stau, so daß ich bezahlte und die Anhöhe des Paseo-de-Prado hinaufging, während die Autos stinkend und hupend feststeckten und sich nur die Motorroller zwischen den beiden unbeweglichen Autoschlangen hindurchwinden konnten. Auf den Motorrollern saßen die Stenze mit der Liebsten auf dem Sozius. Die Mädchen hielten sich überheblich nur mit einer Hand fest und hatten, als säßen sie im Damensattel, ihre schlanken Beine elegant geschlossen. Madrid ist eine reiche und elegante und gleichzeitig barbarische und massige Stadt, doch an Eleganz überflügeln die jungen Madrider die jungen Leute in Rom wie die in Paris. Aber ich bin auch Lokalpatriot. In der Hitze der Nacht bekommen die meisten Großstädte einen aggressiven Ton, der den Asphalt vibrieren läßt, zwischen den Häuserreihen zurückgeworfen wird und den Einwohnern ins Gemüt dringt.
    Madrid war ein Nachttier. Eine Großstadt, die in der sommerlichen Hitze nie zu schlafen und immer in Bewegung zu sein schien. Eine Bewegung wie die eines Nomaden. Sie geschah um ihrer selbst willen. Es gab kein endgültiges Ziel der Reise.
    Die Plaza Santa Ana stellte den Mittelpunkt meines barrio dar.
    Meinen Ort auf der Welt. Ich bin dort als junger Mann fast zufällig hingeraten und habe, wenn ich in Madrid war, an verschiedenen Stellen rundherum gewohnt. An der einen Seite des rechteckigen Platzes stand das Teatro Real, an der anderen das große weiße Hotel Victoria. Die Längsseiten bestanden aus hohen, alten Wohnhäusern mit Cafés und Restaurants im Parterre. Bäume spendeten an heißen Sommertagen kühlen Schatten. In der Mitte des Platzes spielten im weichen, violetten Abenddunkel Kinder auf den weißen Steinen, während die Mütter und Väter auf den Bänken saßen und plauderten und gleichzeitig die Kleinen beobachteten, die in ihren blauen Schuluniformen noch ein wenig die Freiheit genossen, ehe sie ihr spätes Abendessen einnehmen mußten. Jedesmal, wenn ich von meinen Reisen nach Haus kam, blieb ich gern einen Moment stehen, mit dem Rücken zum Theater, und schaute, die Cervezeria Alemana als Fixpunkt links von mir, über den Platz.
    Ich kam mir ein wenig vor wie die Hauptperson in einem alten Film, wo man den Lauf der Zeit verdeutlicht, indem man weiße Kalenderblätter mit großen schwarzen Buchstaben im Winde wegflattern läßt. Der konkrete Marsch der Zeit. Hier konnte ich die Kalenderblätter rückwärts laufen lassen und Jahr um Jahr meiner Zeit, die ich mit dem Platz verbracht hatte, abschälen; die Unterschiede lagen in den Nuancen. In der Haarlänge, in dem Schnitt und der wechselnden Eleganz der Kleider, in den Automarken und -formen, im sichtlich gestiegenen Wohlstand, im Make-up und teilweise in den Spielen der Kinder. Aber im großen und ganzen war das Bild das gleiche. Die Melodie der Stimmen, das Schnurren der Autos und das Gebrüll der Motorräder, das Fangenspielen und Seilspringen der Kinder, die gedämpfte Unterhaltung der Mütter und Großmütter über Kinder und Liebe, die lauten Gespräche der Männer über Fußball und Stierkampf, während sie Zigarettenrauch umwaberte. Es war, wie es immer gewesen war. Der Geruch nach Benzin und nach Knoblauch aus den Cafés und Restaurants. Ich wünschte, es würde immer so bleiben, obwohl sich Madrid unter dem Einfluß von Europas Verschmelzung und Brüsseler Direktiven zur Vereinheitlichung unmerklich, aber sicher veränderte und mehr und mehr seinen eigenen Charakter verlor und sich dem anderer Großstädte
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