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Der Auftraggeber

Der Auftraggeber

Titel: Der Auftraggeber
Autoren: Daniel Silva
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dem kleinen Balkontisch hinaus.
    Während er auf den Tagesanbruch wartete, analysierte er die einzelnen Düfte, aus denen sich der spezielle Geruch Jerusalems zusammensetzt: Salbei und Jasmin, Honig und Kaffee, Leder und Tabak, Zypressen und Eukalyptus. Dann brach endlich der Tag an. Da Gabriel nicht als Restaurator arbeiten konnte, genoß er Jerusalem bei Sonnenaufgang wie ein Kunstwerk. Die letzten Sterne verblaßten, die Sonne tauchte hinter dem langgestreckten Bergrücken auf, der Jerusalem von der Wüste der West Bank trennte. Die ersten Sonnenstrahlen krochen den kalkfarbenen Ölberg hinunter und ließen dann den Felsendom in goldenem Feuer erstrahlen. Danach fielen die Strahlen auf die Grabeskirche und tauchten ihre Ostfassade in scharlachrotes Licht, während die übrigen Teile des imposanten Baus in tiefem Dunkel blieben.
    Gabriel beendete sein Frühstück, trug das Geschirr in die Küche, wusch es sorgfältig ab und legte es zum Trocknen auf die Abtropffläche. Was nun? An manchen Vormittagen blieb er zu Hause und las. In letzter Zeit hatte er sich angewöhnt, Wanderungen zu machen, die er jeden Tag etwas weiter ausdehnte. Gestern war er schon bis zum Mount Scopus hinaufgewandert. Er merkte, daß er unterwegs klarer denken und sogar versuchen konnte, das Fiasko aufzuarbeiten, in dem ihr Unternehmen geendet hatte.
    Er duschte, zog sich an und ging nach unten. Als er aus dem Apartmentgebäude auf die Straße trat, hörte er mehrere Geräusche nacheinander: ein heiseres, lautes Flüstern, eine Autotür, die zugeschlagen wurde, einen anspringenden Motor. Schamrons Aufpasser. Gabriel ignorierte sie, zog den Reißverschluß seiner Jacke zu, weil er in der Morgenkühle fröstelte, und schritt aus.
    Er folgte der Chatiwat Jeruschalajim und betrat die Altstadt durchs Jaffator. Dort wanderte er durchs hektische Treiben der Basarmärkte: Berge von Linsen und Kichererbsen, Stapel von Fladenbroten, zum Überquellen gefüllte Säcke mit aromatischen Gewürzen und feingemahlenem Kaffee, Araberjungen, die Silberschmuck und Kaffeekannen verhökerten. Ein Junge drückte Gabriel eine aus Olivenholz geschnitzte Jesusstatue in die Hand und nannte einen weit überhöhten Preis. Er hatte Tariqs hellwache braune Augen. Gabriel gab ihm die Statue zurück und erklärte ihm in akzentfreiem Arabisch, sie sei viel zu teuer.
    Nachdem er das lärmende Markttreiben hinter sich gelassen hatte, schlenderte er durch das Gewirr aus stillen gewundenen Gassen nach Osten in Richtung Tempelberg weiter. Allmählich wurde es wärmer. Es war fast Frühling. Der Himmel über ihm war wolkenlos azurblau, aber die Sonne stand noch zu tief, um das Labyrinth der Altstadt ausleuchten zu können. Gabriel glitt fast lautlos durch die Schatten: ein Skeptiker unter den Gläubigen an diesem Ort, an dem Andacht und Haß kollidierten. Vermutlich war er wie jeder andere Mensch auf der Suche nach Antworten. Nach anderen Antworten, aber eben doch nach Antworten.
    Er wanderte lange ziellos umher, dachte nach. Er folgte den dunklen, kühlen Gassen, ohne auf die Richtung zu achten. Einige Male stand er vor einem verschlossenen Tor oder einer unüberwindbaren Steinmauer aus Herodes' Zeit. Manchmal führte sein Weg ihn in einen sonnendurchfluteten Innenhof. Dort erschien ihm für einen Augenblick alles hell und klar. Dann betrat er die nächste düstere Gasse, deren Schatten ihn einhüllten, und erkannte, daß er der Wahrheit noch immer nicht näher gekommen war.
    Schließlich erreichte er eine Gasse, die zur Via Dolorosa führte. Einige Meter vor ihm fiel ein Lichtband übers Pflaster. Gabriel beobachtete, wie zwei Männer ein Orthodoxer in schwarzem Schtreimel und ein Araber mit wallender weißer Kaffijah - sich dort begegneten. Sie passierten einander, ohne sich eines Blickes zu würdigen, und gingen ihrer Wege. Gabriel schlenderte zum Beit ha-Bad weiter und verließ die Altstadt durchs Damaskustor.
    An diesem Abend bestellte Schamron Gabriel zu sich nach Tiberias. Sie aßen auf der Terrasse unter zwei fauchenden Gasstrahlern. Gabriel hatte die Einladung nur widerstrebend angenommen, aber er spielte den liebenswürdigen Gast, hörte sich die Stories des Alten an und erzählte selbst ein paar.
    »Lev hat heute seinen Rücktritt erklärt. Er hat gesagt, er könne nicht länger in einer Organisation tätig sein, in der der Chef der Operationsabteilung über ein wichtiges Unternehmen nicht informiert wird.«
    »Eigentlich hat er recht. Haben Sie seinen Rücktritt
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