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Der Auftrag oder vom Beobachten des Beobachters der Beobachter

Der Auftrag oder vom Beobachten des Beobachters der Beobachter

Titel: Der Auftrag oder vom Beobachten des Beobachters der Beobachter
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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wenn sie sich ihnen näherte, sie ging durch die Räume, die sie schon gesehen hatte, sie ging zögernd, immer neue Korridore, Schlafstellen, technische Räume, deren Apparaturen sie nicht begriff, die Anlage mußte für viele Menschen gebaut sein, wo waren sie, mit jedem Schritt fühlte sie sich bedrohter, es mußte sich um eine List handeln, sie allein zu lassen, sie war sicher, sie werde von Polyphem beobachtet, sie kam dem Hämmern immer näher, einmal war es ganz nah, dann ferner, plötzlich stand sie am Ende eines Korridors vor einer Eisentüre, die ein normales 54

    Schloß hatte, in welchem ein Schlüssel steckte, gegen die gehämmert wurde, und manchmal war es, als ob sich jemand von innen mit den Schultern gegen die Türe werfe, schon wollte sie den Schlüssel drehen, als ihr der Gedanke kam, es sei Polyphem, der sich hinter der Eisentüre befinde, er war betrunken und sein Abschied war sonderbar gewesen, ihm mußte irgend etwas durch den Kopf geschossen sein, er hatte sie geradezu angestarrt und dann doch wieder nicht, als wäre sie nicht vorhanden, und dann konnte er sich selber aus Verse-hen eingesperrt haben indem sich das Schloß verklemmt hatte, auch konnte ihn ein Dritter eingeschlossen haben, die Anlage war riesig, vielleicht war sie nicht so unbewohnt wie es schien und warum öffneten sich plötzlich alle Türen automatisch, es polterte und hämmerte weiter, sie rief Polyphem, Polyphem, nur Hämmern und Poltern als Antwort, aber vielleicht war hinter einer Eisentüre nichts zu hören, vielleicht war alles keine List, vielleicht wurde sie nicht beobachtet, vielleicht war sie frei, sie lief in ihre Zelle, fand sie nicht, lief Irrwege, betrat eine Zelle, die sie zuerst für die ihre hielt, die jedoch nicht die ihre war, endlich fand sie die ihre doch, hängte sich die Tasche um, eilte wieder durch die unterirdischen Räume, immer noch war das Hämmern und Poltern zu hören, endlich fand sie die Garagentüre, sie glitt zur Seite, das Geländefahrzeug stand bereit, sie bestieg den Führersitz, betrachtete das Armaturen-brett, fand neben dem üblichen Instrumentarium zwei Knöpfe mit eingelassenen Zeigern, einer nach oben, einer nach unten, drückte auf den Knopf, dessen Zeiger nach oben wies, die Decke öffnete sich, das Geländefahrzeug wurde hinaufgescho-ben, sie befand sich im Freien, über ihr der Himmel, in ihm Trümmer wie Speerspitzen, lange Schatten von einem grellen Funken geworfen, der erlosch, mit einem Ruck war die Erde rückwärts gekippt, der rote Streifen Lichts am Horizont begann sich zu schließen, sie war im Schlund eines Weltungeheuers, 55

    das seinen Rachen schloß, und wie sie den Einbruch der Nacht erlebte, die Verwandlung von Licht zu Schatten und von Schatten zu Finsternis, in welcher die Sterne plötzlich da waren, ging ihr die Gewißheit auf, daß die Freiheit die Falle war, in die sie laufen sollte, sie ließ das Geländefahrzeug wieder nach unten gleiten, die Decke schloß sich wieder über ihr, das Poltern und Hämmern war nicht mehr zu hören, sie rannte in ihre Zelle zurück und als sie sich auf das Bett warf, spürte sie etwas heranheulen, ein Einschlag, ein Zerbersten, fern und doch ganz nah, ein Erzittern, das Bett, der Tisch tanzten, sie schloß die Augen, sie wußte nicht wie lange, auch nicht ob sie ohnmächtig gewesen war oder nicht, es war ihr gleichgültig und als sie die Augen öffnete, stand Polyphem vor ihr.

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    Er stellte ihren Koffer neben ihr Bett, er war nüchtern und frisch rasiert, trug einen sauberen weißen Anzug und ein schwarzes Hemd, es sei halb elf, er habe sie lange suchen müssen, sie liege nicht in ihrem Appartement, sie müsse es letzte Nacht verwechselt haben, offenbar sei sie durch das Erdbeben erschreckt worden, er erwarte sie zum Frühstück, und hinkte hinaus, die Türe schloß sich hinter ihm, sie erhob sich, das Bett war eine Couch, die Fotos an den Wänden stellten in verschiedenen Etappen die Explosion eines Panzerwagens dar, ein im Turm eingeklemmter Mann verbrannte, wurde zu Kohle, starrte verrenkt in den Himmel, sie öffnete den Koffer, zog sich aus, duschte, zog sich ein frisches Blue-jeans-Kleid an, öffnete die Türe, wieder das Hämmern und Poltern, dann Stille, sie verlief sich, dann Räume, an die sie sich erinnerte, in einem Raum ein Tisch von Fotos und Papie-56

    ren leergefegt, Brot, auf einem Brett in Scheiben geschnittenes Corned beef, Tee, ein Krug mit Wasser, eine Büchse, Wassergläser, Polyphem hinkte aus einem
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