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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt
Autoren: Carol Birch
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Augen trug eine Schlange um den Hals.
    Woher sollte ich wissen, was möglich war und was nicht? Und als mir dann das Unmögliche in all seiner Schönheit mitten auf dem Ratcliffe Highway entgegengelaufen kam, wie hätte ich da wissen sollen, was zu tun war?
    Natürlich hatte ich schon Katzen gesehen. Man konnte nachts in Bermondsey gar nicht schlafen, wenn sie über die Dächer schlichen und dabei ganz fürchterlich kreischten. Sie lebten in Horden, spazierten dürr und mit feurigen Augen über Plankenwege und Holzbrücken und kämpften mit Ratten. Aber diese Katze –
    Die Sonne selbst war vom Himmel herabgestiegen und wandelte auf Erden.
    So wie die Vögel in Bermondsey klein und braun waren und die meiner neuen Heimat groß und regenbogenfarben, so schienen auch die Katzen von Ratcliffe Highway einer Rasse anzugehören, die unseren mageren Nordufer-Miezen ganz und gar überlegen war. Diese Katze hatte die Größe eines kleinen Pferds, eine breite Brust, war kräftig-kompakt und rollte mächtig in den Schultern. Sie war golden, und das Muster, mit dem sie von oben bis unten so sorgfältig, so absolut perfekt bemalt war, erstrahlte im schwärzesten Schwarz der Welt. Ihre Tatzen hatten die Größe von Schemeln, ihre Brust war schneeweiß.
    Ich hatte diese Kreatur schon irgendwo gesehen, als Bild auf einem Plakat in der London Street, jenseits des Flusses. Sie sprang da durch einen Feuerreifen, und ihr Maul war weit geöffnet. Ein Fabelwesen.
    Ich kann mich nicht erinnern, einen Fuß vor den anderen ge
setzt, das Kopfsteinpflaster unter den Sohlen gespürt zu haben. Die Katze zog mich an wie Honig die Wespen. Ich hatte keine Angst. Mit einem Mal befand ich mich vor dem göttlichen Gleichmut ihres Gesichts und sah ihr in die hellen, gelben Augen. Ihre Nase war ein Abhang aus samtigem Gold, ihre Nüstern waren rosa und feucht wie die eines Welpen. Sie zog ihre dicken, weiß gepunkteten Lefzen hoch und lächelte, und ihre Schnurrhaare strotzten.
    Ich fühlte plötzlich mein Herz viel zu weit oben klopfen, als wäre es eine kleine Faust, die hinaus ins Freie wollte.
    Doch nichts auf der Welt hätte mich daran hindern können, die Hand zu heben und die breite, warme Noppe der Nase zu streicheln. Selbst jetzt noch spüre ich, wie herrlich diese Berührung war. Noch nie war etwas so weich und so rein gewesen. Ein Schauer durchzuckte ihre rechte Schulter, als sie ihre Tatze hob – größer als mein Kopf – und mich träge umwarf. Es war, als hätte mich ein Kissen gefällt. Ich fiel hin, tat mir aber nicht besonders weh, mir blieb nur die Luft weg, und danach war alles ein Traum. Es gab dann, wie ich mich erinnere, viel Geschrei und Gebrüll, aber es klang sehr fern, als wäre ich unter Wasser. Die Welt war auf den Kopf gestellt und floss in einem breiten Strom an mir vorbei, der Boden unter mir bewegte sich, meine Haare hingen mir in die Augen. Ich empfand eine Art Freude, das weiß ich noch – nichts, wozu das Wort Furcht gepasst hätte, nur Wildheit. Ich war im Rachen der Katze. Ihr Atem versengte mir den Nacken. Meine bloßen Zehen schleiften über den Boden, taten undeutlich weh. Ich konnte ihre Tatzen sehen, gelbbraun-orangefarben mit weißen Zehen, die über den Boden glitten, federleicht.
     
    Ich weiß noch, dass ich durch turbulentes Wasser nach oben schwamm, erinnere mich an das Heulen von Millionen Muscheln, an eine endlose, zeitlose Konfusion. Ich war niemand.
Namenlos. Nirgendwo. Dann kam ein Moment, in dem ich begriff , dass ich nichts war, und das war das Ende vom Nichts und der Beginn der Angst. Ich hatte mich noch nie so verloren gefühlt, auch wenn es noch viele Augenblicke der Verlorenheit in meinem Leben geben sollte. Stimmen meldeten sich, drangen durch das allgemeine Geheul, ergaben keinen Sinn. Dann Worte – er ist tot, er ist tot, er ist tot, um Gottes willen – und, ganz plötzlich, harter Stein, kalt an meiner Wange.
    Eine weibliche Stimme.
    Eine Hand auf meinem Kopf.
    Nein nein nein, seine Augen sind offen, sieh doch, er ist . . . Na bitte! Braver Junge, lass mich mal fühlen . . . nein nein nein, alles in Ordnung mit dir . . .
    . . . er ist tot er ist tot er ist tot . . .
    . . . schön, da bist du ja, mein Sohn . . .
    . . . da bist du ja wieder . . .
     
    Und ich werde geboren. Sitze hellwach auf dem Gehsteig, blinzle verstört die Wirklichkeit an.
    Ein Mann mit einem großen roten Gesicht und kurz geschnittenem gelben Haar hielt mich an den Schultern
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