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Der Architekt

Der Architekt

Titel: Der Architekt
Autoren: Jonas Winner
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nicht, ob Sie sich das vorstellen können …«
    »Sagen Sie uns, was Sie gesehen haben, Frau Lenz.«
    »…«
    »Frau Lenz, ich weiß, dass es Ihnen schwerfällt. Aber … Oder meinen Sie, dass Sie dem nicht gewachsen sind? Ich mache Sie jedoch darauf aufmerksam, dass Ihre Aussage für die Verhandlung von großem Wert ist.«
    »Ist sie das? Haben Sie nicht die Fotos …«
    »Die sind erst viel später angefertigt worden. Wenn Sie gegen Mitternacht den Tatort betreten haben, sind Sie weniger als eine Stunde nach dem Täter dort gewesen. Es besteht deshalb die Hoffnung, dass Ihnen etwas aufgefallen ist.«
    »Aber die Polizeibeamten haben mich doch bereits befragt!«
    »Wie gesagt, wenn Sie hier nicht als Zeugin aussagen wollen, müssen Sie das nicht. Sie sind traumatisiert durch das, was Sie erlebt haben. Der Sachverständige hat eingeräumt, dass es eine unzumutbare Belastung sein könnte, Sie Ihre Erlebnisse vor Gericht noch einmal schildern zu lassen. Dennoch möchte ich Ihnen sagen, dass ich Ihre Aussage für äußerst wertvoll halte, da Sie den Angeklagten kennen und als Erste den Tatort betreten haben.«
    »Ja … ja, natürlich …«
    »Sehen Sie sich imstande fortzufahren?«
    »Ich … ich weiß es nicht.«
    »Was ist geschehen, nachdem Sie das Schlafzimmer von Herrn und Frau Götz verlassen haben?«
    »Ich habe die Spur auf der Galerie gesehen.«
    »Und dann?«
    »Es war, als würde mich etwas schieben oder ziehen, ich weiß es nicht. Ich bin der Spur nachgegangen. Aber plötzlich wusste ich, wohin sie führt. Und es kam mir so vor, als würde mir jemand eine heiße Nadel in den Kopf bohren.«
    »Was haben Sie getan?«
    »Die Flecken führten in Svenjas Zimmer. Sie lag auf dem Boden. Das … sie war so klein, sie … wissen Sie, sie sah aus wie ihr Teddybär.«
    Ben beugte sich etwas nach vorn. Er saß schräg hinter der Zeugin, gut zehn Meter entfernt. Da sie sich, wenn sie zum Richter schaute, ein wenig zur Seite wenden musste, konnte er hin und wieder einen Blick auf ihr Profil werfen. Sie war jung, vielleicht Mitte zwanzig. Ihr Gesicht wirkte, als hätte sie es aufgegeben, verstehen zu wollen, was sie erlebt hatte. Als hätte das Erlebnis gleichzeitig aber auch einen unauslöschlichen Abdruck in ihr hinterlassen. Als hätte es ihre Persönlichkeit verändert, ohne dass sie damit etwas zu tun gehabt hätte.
    Sie stützte den Arm auf den Tisch vor ihr und hielt das Taschentuch, das man ihr gegeben hatte, zusammengeknüllt in der Hand dicht vor die Nase. »Neben Svenja lag eine Schere auf dem Boden. An ihren Füßen endete die Spur. Ich hatte das Gefühl, alles um mich herum würde sich drehen. Ihre Augen waren geöffnet, der Kopf lag auf der Seite. Ich kniete mich neben sie, wollte sie aufheben, ins Bett tragen, aber dann sah ich, dass sie nicht mehr da war. Ich hatte das Gefühl, ich würde sie rufen hören: ›Hanna, Hanna!‹ Aber da war nichts. An der Stirn war die Haut ein wenig abgeschürft, sie war unheimlich bleich, doch sonst sah ihr Kopf ganz unberührt aus. Ihr Schlafanzug war an der Seite verschmiert, da war wieder die schwarze Paste, die auf das ganze Haus herabgeregnet zu sein schien. Der Arm war verdreht, sie lag darauf, ich dachte, dass ihr das doch weh tun müsste, aber ich habe mich nicht getraut, sie anzurühren. Ich spürte, dass mir die Tränen übers Gesicht liefen, ich sagte es ja bereits, ich war völlig außer mir.«
    Sie schwieg. Die letzten Worte hatte sie eher flüsternd hervorgewispert, ein einziger, langgezogener Laut, als würde sie nicht einmal mehr Luft holen.
    Bens Blick wanderte zum Gesicht des Richters, dessen Augen auf der Zeugin ruhten.
    »Dann stand ich bei Pia am Bett«, hörte Ben die Zeugin weiterflüstern und schaute wieder zurück zu ihr. Sie hatte den Kopf ein wenig geneigt, das Taschentuch in ihrer Hand berührte jetzt ihre Nasenspitze. »Ich erinnere mich nicht mehr, wie ich in Pias Zimmer gegangen bin, ich war plötzlich da. Sie lag in ihrem Bett, die Decke war über sie gezogen, sie hatte die Augen geschlossen. Für einen Augenblick dachte ich, sie hätte einfach weitergeschlafen. Ich habe die Decke zurückgeschlagen, wollte sie hochheben, herausreißen aus diesem Alptraum. Aber dann sah ich, wie unnatürlich ihr Köpfchen auf dem Rumpf saß. Sie hatte den Schlafanzug mit den Elefanten an, und er war ein wenig hochgerutscht. Ihr Körperchen war in sich verdreht, das Leben war aus ihr herausgeschlagen. Ich weiß nicht, ob sie gar nicht aufgewacht ist,
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