Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Architekt

Der Architekt

Titel: Der Architekt
Autoren: Jonas Winner
Vom Netzwerk:
ihre Äuglein waren ja geschlossen. Sie sah einfach so aus, als ob sie noch schlief. Sogar der Mund stand offen, wissen Sie, so wie immer, wenn ich abends nach ihr schaute und sie schon eingeschlafen war. Aber dann war immer ihr Atmen zu hören gewesen, manchmal lauter, manchmal ganz leise, so dass man es nur vernahm, wenn man sich dicht über sie beugte. Diesmal jedoch war es ganz still. Es war nicht das geringste Schnaufen zu hören.«
    Sie hielt erneut inne, und die Stille erfüllte den Saal. Entfernt war der Verkehr zu hören, der auf der Hauptstraße vor dem Gerichtsgebäude vorbeibrandete.
    »Ich habe Pia geliebt, aber erst als ich sie so liegen sah, begriff ich, wie sehr. Sie war das süßeste, lustigste Mädchen, das ich je kennengelernt habe. Ich hätte alles für sie getan.«
    Die Stimme der Frau war heiser geworden, brach sich dumpf in dem hohen Gerichtssaal. Ben konnte sie kaum noch verstehen.
    »Jetzt lag sie da, in ihrem Bettchen, die blonden Haare rings um ihren Kopf ausgebreitet. Ich konnte nicht anders, ich habe mich zu ihr hinuntergebeugt, sie auf ihre kleine Wange geküsst. Sie war noch ganz warm, richtig warm, so warm, wie sie immer war, wenn sie schlief. Und doch war es anders.«
    Der Richter nickte ihr zu. Aber sie schien noch etwas sagen zu wollen.
    »Seitdem wache ich nachts oft auf«, hörte Ben sie beinahe verträumt vor sich hin murmeln, »und denke, jetzt ist er endlich vorbei, der Alptraum, der in jener Nacht begann. Aber dann sehe ich es wieder vor mir, Pias Gesichtchen, das so auf dem Kissen liegt, wie ich es oft nachts habe liegen sehen. Dann muss ich mir sagen, dass es wirklich passiert ist. Dass es eins von diesen Erlebnissen ist, von denen man denkt, sie wären aus einer anderen Welt gekommen, wissen Sie?«
    Ihr Blick zuckte hoch, suchte die Augen des Richters. Der schien einen Augenblick lang unsicher zu sein, was er darauf antworten sollte.
    »Dass es aber doch einfach passiert ist, und zwar nicht irgendwo oder irgendwann, sondern hier bei uns.« Ihre Stimme brach. »In dem Haus, in dem ich gewohnt und gearbeitet habe.«
    Sie schwieg. Und im gleichen Moment wurde Ben bewusst, dass er dem Au-pair-Mädchen minutenlang zugehört hatte, ohne sich zu bewegen. Er holte tief Luft. Hatte er vergessen zu atmen? Sein Blick fiel auf seine Hände, die geradezu schmerzhaft ineinander verkrampft waren. Er löste vorsichtig den Griff und drehte die Handflächen nach oben. Sie waren schweißüberströmt. Die Nägel seiner Finger hatten sich bis aufs Blut in seine Handballen gebohrt.

4
    Das Wasser rann an ihrem Körper herab. Die beiden Frauen, die sie emporzogen, trugen Gummihandschuhe, die bis zum Ellbogen reichten, um sich mit der fettigen Flüssigkeit nicht die Kleidung zu verunreinigen. Gleichmäßiges, weißes, hartes Licht erfüllte den Raum. Der Mann hatte ihn längst verlassen.
    Die kühle Luft ließ Mia erschaudern. Sie sehnte sich danach, den schmierigen, beinahe schleimigen Film, der ihren entkleideten Körper bedeckte, abzuduschen, traute sich aber nicht, es den Frauen, die sie den Gang entlang begleiteten, zu sagen.
    Ja, es ginge schon, hatte sie gemeint, als sie gefragt hatten, wie sie sich fühle. »Nur etwas schwach.«
    Sie hatten nicht weiter nachgefragt.

5
    Vier Stunden vor der Aussage von Hanna Lenz vor Gericht
    »Weiter im Prozess gegen einen 49 -Jährigen, der drei Menschen erschlagen haben soll.«
    Ben schluckte. Er starrte auf seinen Computerbildschirm.
    Wann war das?
    »Dienstag, 28 . April, 9  Uhr, Saal 621 .«
    Heute.
    Er warf einen Blick auf seine Uhr. In zehn Minuten!
     
    Dunkel erinnerte er sich an den gestrigen Abend. Ben war bei der Produktionsfirma gewesen, zur Besprechung des Drehbuchs, das er abgegeben hatte. Er holte tief Luft, sah das Gesicht Hellwigs vor sich, des Produzenten, der ihn zu sich bestellt hatte.
    »Um ehrlich zu sein, ich bin ratlos, Ben«, hatte Hellwig das Gespräch eröffnet.
     
    Bens Blick huschte erneut über den Monitor: »Weiter im Prozess gegen einen 49 -Jährigen, der drei Menschen erschlagen haben soll.«
    Nur langsam sickerte das, was dort stand, in sein Bewusstsein. Drei Menschen.
     
    »Wir haben uns jetzt ja schon ein paarmal getroffen und über den Stoff geredet«, hatte Hellwig gesagt und sich zurückgelehnt. »Langsam fange ich wirklich an, mich zu fragen, ob du überhaupt verstehst, was ich meine.«
    Damit war eigentlich schon alles klar gewesen.
    »Weißt du, ich will mich gar nicht hier hinsetzen und beurteilen, was du
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher