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Der Architekt

Der Architekt

Titel: Der Architekt
Autoren: Jonas Winner
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einmal darauf gestoßen worden, und zwar mit einer solchen Wucht, dass ich oftmals den Eindruck habe, die Nachbeben dieser Erschütterung stecken mir heute noch in den Knochen.
     
    Es hatte ein Tag wie jeder andere im Moabiter Kriminalgericht werden sollen, doch schon gleich am Eingang, noch vor der Personenkontrolle, traf es mich wie ein Blitz. Sein Name.
Ben Lindenberger!
Eingetragen in einem Formular, das in einem der Glaskästen beim Einlass hing, hinter der gefürchteten Wendung »Fortsetzung der Verhandlung gegen …«.
    Als wäre eingetreten, was ich seit Wochen, wie entfernt auf mich lauernd, gespürt hatte. Beklommen trat ich vor den Aushang, der mir ins Auge gefallen war. Es ging um Totschlag. Lindenbergers Vorahnung, die er geäußert hatte, als er mich im Winter in meiner Kanzlei aufgesucht hatte, war gerechtfertigt gewesen!
    Ich wusste, dass ich eigentlich keine Zeit hatte, dass die Verhandlung, deretwegen ich nach Moabit gekommen war, jeden Moment beginnen würde und man mich dort erwartete. Aber ich konnte nicht anders, erfasste die Nummer des Verhandlungsraums, in dem Lindenberger sich aufhalten musste, und eilte los.
    Der Raum befand sich im Gang mit den Sechshunderternummern, an dem die großen Gerichtssäle liegen, die Säle, in denen es um Kapitalverbrechen geht. Nur noch vereinzelte Gruppen standen hier und dort in dem Gang beisammen, bereit, sich in einen weiteren, meist traurigen, zuweilen auch grausigen Moabiter Verhandlungstag zu stürzen.
    Ich achtete auf niemanden und ging, so zügig ich konnte, zu der Tür, auf die ich es abgesehen hatte. »Besucher zugelassen nur über –«, stand dort auf einer offiziellen Verlautbarung zu lesen. Ich riss die Tür auf.
    Der Zeuge muss inmitten einer Befragung gesteckt haben, denn er redete noch weiter, als ich schon im Saal stand. Der Richter aber sah nicht mehr zu ihm, sondern zu mir, die Augen verärgert, die Stirn in Falten. Ihm gleich taten es seine Kollegen auf der Richterbank, und auch von den Zuschauern, die sich ja nicht sicher sein konnten, ob mein Erscheinen nicht Teil des regulären Prozesses war, sahen einige zu mir herüber. Ich aber konnte nicht anders, als mich zur Anklagebank zu wenden.
    Dort saß er. Hoch aufgerichtet und über die Unterbrechung nicht minder überrascht als die meisten anderen. Die Haare kürzer als zu der Zeit, als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, beinahe noch hagerer geworden und um Jahre gealtert: Ben Lindenberger, der Mann, der mir den Text, den ich Ihnen, lieber Freund, hiermit übersenden möchte, an jenem unglückseligen Abend in die Kanzlei gebracht hatte.
    Ich wartete nicht, bis der Gerichtsdiener mich hinauswarf. Für einen Moment kreuzten sich mein Blick und der Lindenbergers, dann stürzte ich aus dem Saal, schlug die riesige schwere Eichenholztür hinter mir zu. Mit lautem Hall antwortete der Gang, der jetzt verlassen dalag. Der Schrecken hatte mich eisern im Griff. Hatte auch ich mich in dem Haus angesteckt, so wie Ben sich angesteckt hatte? So wie Christine, ihre Geschwister und wer weiß wie viele andere noch?
Das
war die irrwitzige Befürchtung, die in meinem Kopf plötzlich kochte.
    Mit äußerster Anstrengung brachte ich den Tag im Gericht hinter mich. Kaum jedoch hatte ich mich endlich frei machen können, stürzte ich in die Kanzlei, in der ich das Manuskript aufbewahrte, und nahm es mir noch einmal vor.
    Wie war es möglich, dass Bens Befürchtung sich tatsächlich bewahrheitet hatte? Und – ein viel quälenderer Gedanke noch – war es nicht ganz nebensächlich,
wie
es möglich war, und viel dringlicher, bohrender die Frage, ob dann nicht auch
ich,
nachdem ich meiner Neugier nicht widerstanden und das Haus aufgesucht hatte, genauso gefährdet war wie er?
    Einem Schuss Tinte in einem Wasserglas gleich ging die Erkenntnis in mir auf, dass meine verbissene Suche nach diesem verfluchten Ort die ersten Anzeichen der Sucht, des Infekts, bereits beinhaltet hatte! Gerade so wie Ben nicht hatte ruhen können, bevor er nicht das Haus ausfindig gemacht hatte!
    Hatte ich nicht, genauso wie er, mit einem Mal den Gedanken, den Ort offiziell zu melden, wie eine lästige Zumutung von mir gewiesen, nachdem ich ihn endlich aufgesucht und wieder verlassen hatte? Obwohl ich
vor meinem Besuch
doch noch geradezu empört darüber gewesen war, dass Ben den Ort des Hauses nicht hatte preisgeben wollen. Wie, wenn nicht durch eine bestimmte Veränderung, die seit dem Besuch des Hauses mit mir vorgegangen sein
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