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Der Architekt

Der Architekt

Titel: Der Architekt
Autoren: Jonas Winner
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geben scheint. Die Schneemassen waren an den Straßenrändern zu beinahe meterhohen Haufen zusammengeschoben worden, braun und grau von den Spritzern, die die vorbeifahrenden Autoreifen emporwirbelten. Am Nachmittag war die Temperatur zum ersten Mal wieder ein wenig gestiegen, es hatte sogar zu tauen begonnen, so dass das Eis und der Schnee an vielen Stellen zu schwerem Wasser verronnen waren, einer schmutzigen Brühe, die einem in den Schuh schwappen konnte, wenn man das Pech hatte, in einen der weichen, angetauten Schneehügel zu treten.
    Als das Portal des Wohnhauses, in dem ich ein Apartment besaß, hinter mir ins Schloss fiel, war es bereits dunkel. Die Lichter der vorbeirauschenden Fahrzeuge spiegelten sich in den Schmelzwasserpfützen. Ich schlug den Kragen über den dicken Schal, den ich mir umgelegt hatte, knöpfte meinen Mantel zu und winkte einem herannahenden Taxi. Die Reifen des Wagens pflügten durch den Schneematsch, der Fahrer blinkte und brachte seinen Wagen zum Stehen. Ich zog die Tür auf, nahm auf der Rückbank Platz und nannte ihm eine Straße.
    »Aber fahren Sie bloß vorsichtig, es muss ja höllisch rutschig sein!«
    Hinter dem Steuer klemmte ein altgedienter Berliner Taxifahrer mit Lederjacke und Glatze. Er schien schlechte Laune zu haben, denn auf meine halb scherzhaft gemeinte Bemerkung hin schaltete er lediglich das Taxometer ein und ließ seine schon etwas überalterte Limousine anrollen.
    Ich lehne mich in den Sitz zurück und sah zu, wie die verwischten Lichter der Stadt an meinem Fenster vorbeizogen.
     
    Drei Wochen waren vergangen, seitdem Ben Lindenberger die Kanzlei verlassen hatte. Ob er meinen Rat befolgt und sich an den Arzt gewendet hatte, den ich ihm empfohlen hatte, wusste ich nicht. Ich hätte meinen Freund anrufen und ihn fragen können, ob Lindenberger sich bei ihm gemeldet hatte, aber ich wusste, dass es ihm unangenehm sein würde, mir über einen Patienten Auskunft zu erteilen, und ließ es bleiben. Von Lindenberger selbst hatte ich seit jenem Morgen, an dem wir uns zuletzt unterhalten hatten, nichts mehr gehört. Seine Geschichte hatte mir jedoch keine Ruhe gelassen, und so hatte ich das Manuskript, das er mir mit den Worten überlassen hatte, bei mir wäre es sicher am besten aufgehoben, seit jenem Morgen bestimmt noch acht- oder zehnmal zur Hand genommen, um darin zu blättern. Dabei hatte sich vor allem eine Frage wie unauslöschlich in meinen Kopf gebohrt: Das Innenhaus, von dem er berichtet hatte,
gab es das wirklich?
    Noch am Tag unseres morgendlichen Gesprächs hatte ich begonnen, systematisch nach Orten zu suchen, an denen sich das Haus befinden könnte. Als Erstes hatte ich mir einen Stadtplan Berlins vorgenommen und überlegt, an welcher Stelle sich Gebäude und Häuserblocks befanden, die zwei Bedingungen erfüllten: Erstes mussten sie zu einer Zeit entstanden sein, zu der Götz bereits als Architekt tätig war. Und zweitens mussten sie groß genug sein, um ein Innenhaus darin verstecken zu können. So schwer konnte es doch nicht sein, dieses geheime Haus ausfindig zu machen, dachte ich. Immerhin ging aus dem Manuskript ja eindeutig hervor, dass es sich in Berlin befinden musste.
    Als ich in den folgenden Tagen und Wochen begann, Erkundigungen darüber einzuholen, an welchen Bauten Götz seit Beginn seiner Tätigkeit mitgearbeitet hatte, erfuhr ich jedoch zu meiner Überraschung, dass sich das kaum mehr eindeutig nachvollziehen ließ. Tatsächlich hatte er als technischer Zeichner bereits 1982 begonnen, in der Baubranche zu arbeiten – zu einer Zeit also, als er noch zur Schule ging! In den Jahrzehnten danach hatte er diverse Unterfirmen gegründet und Aufträge der verschiedensten Bauherren übernommen, sich um Statik, Innenausbau, Instandsetzung gekümmert, Tiefgaragen, Hochhäuser, Sozialbau gemacht und war daher zusammen mit seinen Mitarbeitern letztlich an Hunderten von Berliner Gebäuden direkt oder indirekt beteiligt gewesen. Es war schlichtweg unmöglich, alle Bauten, die in Frage kamen, zu überprüfen. Mir wurde klar, dass die Stadt, in der ich immerhin seit meiner Kindheit lebte, vielleicht nicht Gotham City, auf jeden Fall aber Götz City war – auch wenn mir das bisher noch gar nicht bewusst gewesen war. Wie ein Krake hatte sich Götz’ Architektur ausgebreitet, wie ein Geflecht hatten seine Planungen, Gestaltungen und Entwürfe die ganze Baustruktur der Stadt überwuchert. Niemand würde je in der Lage sein, seinen Einfluss, der in die
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