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Der amerikanische Investor (German Edition)

Der amerikanische Investor (German Edition)

Titel: Der amerikanische Investor (German Edition)
Autoren: Jan Peter Bremer
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kam unter dem Tisch hervor, richtete sich auf und sah auf den Schreibtisch hinab. Vielleicht sollte er dem amerikanischen Investor einen Brief schreiben, wer er sei und was er tue. Vielleicht war der amerikanische Investor ein Mensch mit einem großen Herzen für die Literatur. Vielleicht war das Herz des amerikanischen Investors für die Literatur sogar so groß, dass der amerikanische Investor, wenn er erführe, wie elend es ihm mit der jetzigen Wohnungssituation ging und wie sehr sie ihn in jedem literarischen Vorhaben blockierte, sich grämen und beschließen würde, ihn auf der Stelle in seinem Arbeitszimmer zu besuchen, um sich hinlänglich für all diese unerfreulichen Umstände zu entschuldigen.
    Er sah zur Decke hinauf. War sein Englisch nicht viel zu rudimentär, um sich mit dem amerikanischen Investor bei einem eventuellen Besuch in dieser Wohnung in Augenhöhe von Gentleman zu Gentleman zu unterhalten, und was wusste er schon über den amerikanischen Investor? Im Internet hatte er vor einiger Zeit gelesen, dass der amerikanische Investor am liebsten Schokolade aß und, als absoluter Weltbürger, in seinem Privatjet das Leben eines Nomaden führte. Er hatte nicht einmal einen festen Wohnsitz. Mehr als ein Handy und einen Anzug brauchte man im Leben nicht, hatte er in einem Interview gelesen, das der amerikanische Investor gegeben hatte.
    Er sah zu seiner Stehlampe hin. Vermutlich würde der amerikanische Investor, bei einer eventuellen Begegnung, ihm sogleich ein Snickers aus der Hüfte entgegenschleudern. Dabei aß er viel lieber Bounty. Aber es ging ja auch gar nicht um Schokoriegel und ebenso wenig ging es um ihn, sondern es ging um die Stadt. Berlin, hatte der amerikanische Investor so oder ähnlich in dem Interview gesagt, sei eine schöne, traditionsreiche Stadt voller Energie und Entwicklung, in der ein großes Potential stecke. Es sei ihm eine wahre Herzensangelegenheit, hatte der amerikanische Investor gesagt, dazu beitragen zu dürfen, der Stadt wieder zu ihrem früheren Glanz zu verhelfen. Allerdings brauche das viel Geduld, denn eines der ungelösten Probleme Berlins sei, dass, für seine Größe, viel zu wenig Menschen in ihm lebten.
    Er trat ans Fenster vor und sah auf die vierspurige Straße hinab. Das klang schon fast nach einem Vorwurf. Vielleicht war der Gedanke gar nicht schlecht, den Brief mit dem Versuch zu beginnen, diesen Vorwurf zu entkräften. Doch was sollte er dazu sagen? Seine Schuld zumindest war es nicht, dass zu wenig Menschen in Berlin lebten.
    Er schaute auf die Uhr an seinem Handgelenk. Noch zwei Stunden, bis die Kinder nach Hause kamen. Wenn er den Brief heute noch beginnen wollte, dann musste er sich bereits beeilen. Aber war es wirklich eine gute Idee, jetzt, in größter Hast, ein paar unüberlegte, überhitzte Zeilen hinzuwerfen? Es ging doch nicht darum, den amerikanischen Investor sogleich vor den Kopf zu stoßen, sondern im Gegenteil darum, ihn für sich zu gewinnen. Es musste ein Brief werden, den der amerikanische Investor nicht wie die tausend anderen Mitteilungen, die er täglich erhielt, löschte oder in den Papierkorb warf, sondern diesen Brief musste er, nachdem er ihn wie alles andere auch nur überflogen hatte, für einen kurzen Moment nachdenklich geworden, wieder zusammenfalten und zu seinem Handy in die Innentasche seines Jacketts stecken. Was hatte dieser Mensch ihm da geschrieben? Den ganzen weiteren Tag müsste den amerikanischen Investor diese Frage flüchtig beschäftigen und sich mit steter Kraft zu seinem Herzen vornagen. Die Geschäftspartner würden fast ein bisschen verunsichert sein. Er, der doch sonst immer der Polterndste unter ihnen war und mit vollen Händen Schokolade durch die Konferenzräume warf, war heute ganz in sich gekehrt, nicht kränklich, vielmehr träumerisch, als hätte er gerade einen Abschluss getätigt, der sogar seine Erwartungen bei weitem übertroffen haben musste. Erst spät am Abend, hoch über den Wolken, weit weg von Europa und noch weiter weg von Amerika, bar jeder Heimat, würde er, bei einem Glas Wein, den Brief wieder aus der Tasche ziehen und er würde ihn lesen und noch mal lesen und dann würde er befehlen, die Fluggeschwindigkeit zu drosseln, und wieder würde er ihn lesen, diese Mitteilung aus einer bedrohten Welt, von einem Menschen, fremd wie ein sich sorgender Mäuserich, fremder noch als jeder Außerirdische, und er würde sich fragen, warum es gerade diesem Menschen aus dem leeren Berlin gelungen war,
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