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Der afrikanische Spiegel

Der afrikanische Spiegel

Titel: Der afrikanische Spiegel
Autoren: Liliana Bodoc
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Sie?“
    Aber die Frau, die in der Tür stand, war nicht Maria Petra.
    „Bitte, treten Sie ein“, sagte Dorel, wobei er seine Enttäuschung nicht verbergen konnte.
    „Sie haben wohl jemand anderen erwartet.“
    „Entschuldigen Sie“, erwiderte er verlegen.
    „Ihre Verlobte?“ Die Frau sprach mit der Selbstsicherheit einer vornehmen Dame.
    „Nein, nein.“
    „Dann wohl Ihre Mutter?“
    Dorel zögerte, bevor er antwortete: „So etwas Ähnliches. Ich habe keine Mutter mehr.“
    „Verstehe. Sie werden müde sein, und ich will Sie nicht lange belästigen. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Sie wundervoll Geige spielen. Mit viel Gefühl.“
    „Danke, Señora.“
    „Und noch etwas, wenn Sie so freundlich wären.“ Raquel zog ein kleines Taschentuch aus ihrer Handtasche. „Könnten Sie Ihren Namen daraufschreiben?“
    „Natürlich.“ Dorel war solche Bitten nicht gewohnt und errötete. „Lassen Sie mich Tinte und Feder holen.“
    Während Raquel redete, sah sie sich neugierig um.
    „Wissen Sie, ich werde bald eine große Reise unternehmen und sammle wertvolle Andenken.“
    „Danke, Señora“, wiederholte Dorel, verwirrt von den Komplimenten. „Sie sind zu freundlich.“
    „Ich versichere Ihnen, dass das keine Schmeichelei ist, sondern reine Dankbarkeit. Ihr Geigenspiel ist Balsam für die Seele.“
    Plötzlich verstummte sie. Ihr Gesicht wurde blass und nahm einen verstörten Ausdruck an. Wortlos ging sie zu einem Tisch, auf dem Dorel seine Habseligkeiten abgelegt hatte. Mit zitternden Fingern hob sie den kleinen Spiegel hoch und murmelte vor sich hin: „Das kann doch nicht sein! Mein Gott, wie sollt e …?“ Um Fassung ringend fragte sie: „Gehört der Ihnen?“
    Es war schwer zu sagen, ob ihr Ton erstaunt, aufgebracht oder traurig war. Oder alles zugleich.
    „Wie kommen Sie zum Spiegel von Atima Imaoma?“
    „Von wem?“
    Nun verstand Dorel gar nichts mehr.
    „Wir nannten sie Silencio. Später sagte sie mir, dass ihr richtiger Name Atima Imaoma sei. Das ist ihr Spiegel! Ich würde ihn unter Millionen Spiegeln wiedererkennen.“
    „Ich habe ihn einem rothaarigen Jungen abgekauft. Das heißt, eigentlich habe ich ihn noch nicht ganz bezahlt.“
    „Ich begreife das nicht“, sagte die Dame mehr zu sich selbst. „Ich kann es nicht glauben.“
    Wie immer fühlte Dorel sich verpflichtet, Erklärungen abzugeben. Als wäre er schuld an der Verwirrung dieser Dame oder womöglich an allem Unheil, das auf der Welt geschah.
    „Der Junge sagte, der Spiegel käme aus Amerika. Dort hätte sein Vater ihn bekommen. Er sagte mir auch, das s …“
    „Aus Amerika?“, unterbrach ihn Raquel.
    „Ja, aus Amerika.“
    „Und wer hat Ihnen diesen Spiegel noch mal verkauft?“
    Dorel schwitzte von Kopf bis Fuß. Er befürchtete, die Dame könnte denken, er hätte ihn gestohlen oder ergaunert.
    Vielleicht glaubte sie, er würde bei Piraten Diebesgut kaufen.
    Vielleicht dachte sie sogar, er hätte einen Reisenden ermordet und ausgeraubt.
    Vielleicht schlugen die brutalen Mauren immer noch Köpfe ab.
    Vielleicht hatte Maria Petra doch Recht.
    Von Scham gequält gab Dorel mehr Erklärungen ab, als von ihm erwartet wurden, ohne selbst welche zu verlangen. Raquel hörte ihm zu und konnte seinem stockenden Bericht kaum folgen. Aber sie zweifelte keinen Augenblick daran, dass diese verblüffende Entdeckung ein Wink des Schicksals war.
    Wie viele Menschen, die ängstlich und unsicher sind, weil sie ohne Liebe aufwuchsen, tat Dorel sein Möglichstes, um die Zuneigung anderer zu gewinnen, selbst wenn es sich um Fremde handelte.
    „Wenn dieser Spiegel eigentlich jemand anderem gehört, dann nehmen Sie ihn doch mit. Er hat schon genug für mich getan.“
    Raquel reagierte, wie sie es gewohnt war.
    „Ich würde mich sehr glücklich schätzen, wenn ich ihn mitnehmen dürfte. Doch ich kann ihn bezahlen. Sagen Sie mir bitte, was Sie für ihn haben möchten.“
    „Aber nein. Er hat mich nur drei Münzen gekostet, und die brauche ich heute nicht mehr.“
    „Ich bestehe darauf.“
    „Betrachten Sie ihn als Geschenk. Sie würden mir damit eine Freude bereiten“, sagte Dorel, denn Menschen, die es der ganzen Welt recht machen wollen, pflegen zu übertreiben.
    „Ich versichere Ihnen, dass Ihr Opfer nicht sinnlos sein wird“, erwiderte Raquel.
    Obwohl Dorel nicht verstand, was sie damit meinte, lächelte er dankbar.
    Der junge Musiker hoffte, mit solchen kleinen Opfern die giftigen Fliegen, die Mauren und die Zigeuner von sich
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