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Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Titel: Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte
Autoren: Noel Hardy
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brechen. Doch dann sah er mitten auf der belebten Straße eine Gestalt stehen, die im Glitzern der Lichter wie von weißem Honig übergossen schien. Sie stand einfach nur da, reglos, ohne den Mund zu öffnen. Lächelnd stieg der Mann wieder in seinen Wagen, fuhr weiter und fand einen Parkplatz ganz in der Nähe.
    Das Virus – denn in einigen Kreisen, vor allem an den Universitäten, setzte sich diese Bezeichnung durch – hatte auch ihn erfasst. Das alles geschah an einem einzigen Tag in einer einzigen Stadt, und es war nicht einmal ein Festtag.
    Es dauerte nicht lange, bis aus den vereinzelten Fällen eine Häufung, dann eine Epidemie wurde, die bald als Pandemie bezeichnet werden musste. » Keine Hektik mehr, kein Neid, kein Geiz«, stellte der Kommentator der Acht-Uhr-Nachrichten fest. »Keine Rüpeleien in der Fankurve der Fußballarena, kein Mobbing im Büro, keine Gewalt im Wohnzimmer«, ergänzte ein wöchentliches Nachrichtenmagazin. »Keine Unfälle, kein Mord, kein Ehebruch«, staunte die Tageszeitung und fasste betroffen zusammen: »Was ist los mit unseren Politikern?«
    Auch aus anderen Städten wurden derartige Vorkomm nisse gemeldet, aus Berlin, Köln, Frankfurt und Ham burg. Später kamen London, Paris und Rom dazu. Ähnliches geschah in New York, in Afrika, China oder Indien. So geballt traten die glücklichen Fügungen auf, dass man nicht mehr von einzelnen Wundern, sondern von einer richtigen Zeit der Wunder sprechen konnte. Von ganzen Wundergebieten.
    Es schien, als hätte eine neue, verbesserte Generation von Schutzengeln überall auf der Welt ihre Schwingen über Kinder, Männer und Frauen gebreitet.
    Nur über eine nicht.

E mma wusste, dass er nicht kommen würde. Er hatte es ihr versprochen, und sie war so dumm gewesen, ihm auch diesmal wieder zu glauben. Jetzt waren es nur noch ein paar Minuten bis Mitternacht. Aber natürlich hatte er es nicht geschafft. Wahrscheinlich hatte er es gar nicht erst versucht. Wahrscheinlich hatte er nicht mal die Absicht gehabt, sein Versprechen zu halten. Wahrscheinlich hatte er sogar schon vergessen, dass sie überhaupt existierte.
    Um Mitternacht öffnete sie den Kühlschrank und nahm den Sekt heraus, den sie für eine besondere Gelegenheit aufbewahrt hatte. Mit ungeübten Griffen befreite sie die Piccolo-Flasche von Kupferpapier, Drahtverschluss und Korken. Der Draht schnitt ihr in den mit Farbresten verzierten Daumenballen. Obwohl es keinen Knall gab, sprudelte der Schaum aus dem Flaschenhals über ihre Hand und brannte in dem frischen Schnitt. Hastig setzte sie die Flasche an den Mund und trank. Der erste Schluck schmeckte bitter, der zweite zu süß. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, dachte sie.
    Sie nahm den Sekt mit ins Bad, wo sie ein Pflaster auf den Daumen klebte. In ihrem winzigen Wohnzimmer legte sie eine Schallplatte auf. Danach ging sie ins Schlafzim mer und setzte sich auf den Hocker vor den Schminkspie gel. Sie knipste die Jugendstillampe auf der Marmorplatte an. Nach einem weiteren Schluck stellte sie die Flasche auf den Teppichboden und betrachtete ihr Gesicht in dem ovalen, schwenkbaren Spiegel.
    Das Gesicht von Emma, die man an ihrem Geburtstag vergisst.
    Zuerst suchte sie nach neuen Fältchen, Krähenfüßen oder vergrößerten Poren – sichtbaren Zeichen unaufhalt sam fortscheitenden Alters. Ihre Augen waren je nach Licht einfall von grau gesprenkeltem Lavendel oder mattem Grün. Mit wenigen Strichen und sparsamen Farbnuancen ließ sich ihre Wirkung verändern, von kühler Ge lassenheit zu Hochmut oder verspieltem Mutwillen.
    Unter dem Sammelsurium von Parfümflakons, Creme tiegeln, Nagellackfläschchen, Wimperntusche und Lippen stiften lag die Mappe mit den Fotos, die sie vor einigen Wochen für die Dating-Agentur hatte machen lassen, sich aber nicht abzuschicken traute. Die Entscheidung, ihr Glück selbst in die Hand zu nehmen, ängstigte sie. Der Preis dafür auch. Bestärkt durch einen weiteren Schluck Sekt schob sie die Schminkutensilien beiseite und schlug die Mappe auf.
    Prüfend betrachtete sie die Bilder. Es war kein einheitliches Gesicht – einigermaßen ebenmäßig, aber ohne vordergründige Glätte. Nicht das Mädchen mit dem Perlenohrring. Bei einigen Aufnahmen wirkte der Mund frisch und leuchtend wie Flieder nach einem Regenschauer im Frühling, auf anderen mehr wie
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