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Der 50-50 Killer

Der 50-50 Killer

Titel: Der 50-50 Killer
Autoren: Steve Mosby
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dieses Gefühl nicht.
    Als ich an das zurückdachte, was sich vor Mercers Haus abgespielt hatte, wusste ich, dass es da nicht um irgendeine Botschaft aus dem Jenseits gegangen war. Ganz im Gegenteil. Es gab niemanden, von dem eine Botschaft zu erwarten war. Lise blieb weiterhin draußen auf dem Meer verschollen, und wo immer ihr Körper nun ruhte, würde sie auf jeden Fall nichts mehr denken. Weder hasste noch liebte sie mich. Sie existierte einfach nicht mehr.
    Welchen Unterschied machte es, woran sie in jenen kurzen Augenblicken im Meer gedacht hatte? Ich würde nie erfahren, was ihr durch den Kopf gegangen war, und was immer ich glauben wollte, änderte nichts daran. Doch weil sie mir so sehr fehlte, drängte es mich, mir ihren Gesichtsausdruck jetzt so vorstellen zu können, als sei sie noch hier. Ich wollte die Dinge hören, die sie vielleicht sagen würde. Aber all dies hatte nur die Realität, die ich ihm verlieh, die ich für mich selbst erfand. Nur in der Erinnerung derer, die wir zurücklassen, haben wir ein Leben nach dem Tod.
    Ich konnte diese Erinnerung mit einem schrecklichen Augenblick am Ende verknüpfen, über den man nichts wissen kann, oder ich konnte an all die Jahre denken, die davor gelegen hatten. Wenn ich mich für das Letztere entschied, gab es wirklich keinen Zweifel, was ich auf ihrem Gesicht gesehen hätte oder was ich sie hätte sagen hören.
    Von jetzt an beschloss ich, sie mir mit einem Lächeln vorzustellen.
    Und ich würde mir vorstellen, dass sie mir, wenn sie mit mir spräche, die Wahrheit zuflüstern würde.
    Du hättest nichts tun können.
     
    Nach dem Trauergottesdienst verließ Jodie die Kapelle und kniff vor dem hellen Tageslicht die Augen zusammen. Der ganze Himmel war grauweiß, aber es sah aus, als schimmere dahinter Licht und überall, wo sie hinsah, glänze die Welt.
    Doch es war sehr kalt. Ihr Atem bildete eine kleine Dampfwolke und erinnerte sie, genau wie die plötzliche Kälte auf ihren Wangen, zu sehr an die Nacht, in der das alles geschehen war.
    Nimm dich zusammen.
    Aber sie zitterte immer noch. Als sie vorlas, hatte sie zweimal innehalten und einen Schluck Wasser trinken müssen. Ihre Hand hatte sichtbar gezittert. Und jetzt war es noch schlimmer. Ihre Kehle war zugeschnürt, ihr Magen … ihr ganzes Inneres war angespannt und verkrampft. Sie erkannte diese Empfindung wieder. Es war eine Mischung aus Panik und Verzweiflung, die langsam und unerbittlich an die Oberfläche kam. Aber sie weigerte sich, zu weinen. Das konnte sie einfach nicht tun und durfte es auch nicht. Denn wenn sie es täte, würden die Leute sie trösten wollen, und sie würde richtig zusammenbrechen, vielleicht sogar endgültig.
    Nun würde sie natürlich nicht weinen, und das war ja das Problem. Sie fühlte Schmerz und Kummer und hatte Schuldgefühle, die unsäglich schwer auf ihr lasteten, und es ging die ganze Zeit trotzdem genauso weiter. Sekunde für Sekunde ging das so, und die ganze Zeit brannte etwas so stark in ihr, dass es nicht zu löschen war, als wäre ihre Seele zu nah am Feuer eingeschlafen. Wenn irgendjemand sie berührte, wenn sie zu intensiv darüber nachdachte, was geschehen war, würde ihre Seele aufwachen und anfangen zu schreien …
    Weil hier doch niemand die Wahrheit kennt.
    Doch andererseits, wenn es wehtat und schwierig war, war das doch gut. Sie verdiente das, und sie durfte nicht davor weglaufen. Begräbnisse sollten doch ein wichtiger Läuterungsprozess beim Trauergeschehen sein. Man konnte den Schmerz herauslassen, und alle würden zustimmen, wobei alle versuchen würden, die Augen von der Tragödie abzuwenden und das Leben davor zu preisen. Es sollte eine Chance sein, sich zu verabschieden, eine Chance zu sagen: Wir haben dich gerngehabt. Und egal, wie sehr sie sich wünschte, sich zu verstecken und einfach zu verschwinden, war es ihre Pflicht, dabei im Mittelpunkt zu stehen. Das schuldete sie nicht nur Scott, sondern auch den Trauergästen. In vieler Hinsicht war sie der Mittelpunkt der Tragödie, und deshalb musste sie ihre Rolle spielen. Die Menschen brauchten sie. Es war nicht die Schuld der Trauernden, dass Jodie in Wirklichkeit kein Recht hatte, Mittelpunkt des schmerzlichen Geschehens zu sein, das sie ausgelöst hatte.
    So kannst du nicht denken. Das ist dumm.
    Aber das stimmte nicht. Die Schuld, die sie fühlte, war mit Recht so intensiv. Aber sie konnte mit niemandem darüber sprechen und hatte nicht das Recht, deswegen zusammenzubrechen, kein Recht,
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