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Der 21. Juli

Der 21. Juli

Titel: Der 21. Juli
Autoren: Christian Ditfurth
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Monatelanger Stress für Werdin. Er ließ Fangfragen, Gebrüll, Drohungen schweigend über sich ergehen und fragte freundlich nach dem Wohlbefinden seiner Vernehmer.
    Carpati musste die Initiative ergreifen, Myers machte sonst noch die kleine Chance kaputt, die ihnen geblieben war. Carpati lief gemächlich zum Wagen, öffnete die Beifahrertür und holte aus dem Handschuhfach einen braunen Briefumschlag. Er ging zurück zur Veranda, stellte sich vor Werdin, legte den Umschlag auf die Lehne des Schaukelstuhls und nahm die beiden Dienstausweise an sich. »Fast hätte ich vergessen, Ihnen das zu geben«, sagte Carpati. Und an Myers gewandt: »Al, wir gehen.«
    Myers stutzte, er schaute Carpati finster an, erhob sich dann und trottete zum Auto.
    »Gibt es ein Hotel in Tierra del Sol?«, fragte Carpati.
    Werdin nickte.
    »Dann bis morgen.«
    Feine Schneeflocken tanzten auf die Stadt hinunter. Noch war der Winter nicht besiegt, aber sein Ende nahte. General Boris Michailowitsch Grujewitsch blickte aus seinem Büro im vierten Stockwerk der Lubjanka auf das Treiben auf dem Dserschinskiplatz. Moskau ist bunter geworden, dachte er. Er könnte keine Tatsachen aufzählen, um das zu belegen. Es war wohl eher eine Bestätigung der guten Laune, die ihn seit einiger Zeit ergriffen hatte. Seit März musste er keine Angst mehr haben, plötzlich verhaftet zu werden. Ja, auch er hatte geweint, als der Vater der Völker, der große Jossif Wissarionowitsch Stalin gestorben war, aber es war manche Freudenträne dabei gewesen. Der Mensch ist gespalten, dachte Grujewitsch, oder vielleicht sind es nur wir Russen. Wir haben Stalin geliebt wie einen gütigen Vater, und wir haben seine Häscher gefürchtet wie sonst nichts auf der Welt. Mehr als die Deutschen. Grujewitsch hatte zeit seines Lebens nichts gekannt als Stalin. Jetzt war er tot, das war gleichermaßen ein Schlag und eine Befreiung gewesen. Vor einigen Tagen war der Schmerz verschwunden, die Freude geblieben.
    Bis ihn eines Nachts die Angst überfiel. Und wenn die Russen nun über sie herfielen und Rache forderten für die Millionen von Vätern, Müttern und Kindern, die sie gequält, verschleppt und ermordet hatten? Und Freiheit für die Gefangenen im GULag?
    Bald erkannte Grujewitsch, dass seine Angst ein schlechter Traum war. Ihr Chef, Lawrentij Berija, war nun der erste Mann. Gut, sie hatten eine kollektive Führung, eine Troika im Parteipräsidium mit Molotow und Malenkow, aber wer konnte daran zweifeln, dass Berija, Marschall der Sowjetunion, stellvertretender Vorsitzender des Ministerrats, Innen-und Staatssicherheitsminister, Herrscher über alle Tschekisten und Polizisten, die stärkeren Bataillone hatte. Männer wie Boris
    Grujewitsch. Die Sicherheitsorgane waren seit Feliks Dserschinski das Gerüst der Sowjetmacht. Und die Russen im Jahr 1953 machten keine Revolution. Also würde alles bleiben, wie es war. Fast alles.
    Einige Tage lang glaubte Boris Grujewitsch, es sei der schönste Frühling seit seiner Kindheit. Er war die Angst los, er gehörte zu den Mächtigen, und er hatte Anna. Anna studierte Gesang am Moskauer Konservatorium und träumte davon, eine große Operndiva zu werden. Grujewitsch gestand sich ein, dass er sich weniger für Annas Stimme interessierte als für ihren Körper. Er dankte dem Schicksal, dass eines Nachts sein Dienstwagen nicht angesprungen war und er sich entschieden hatte, die U-Bahn zu nehmen. Anna hatte ihn versehentlich in der U-Bahn-Station Dserschinskaja angerempelt. »Sie stehen aber wirklich am falschen Platz«, hatte sie ihn schnippisch von der Seite gerüffelt, statt sich zu entschuldigen. Sie gehörte zu den wenigen Russen, die sich von Uniformen nicht einschüchtern ließen, nicht einmal von den Epauletten eines Generals des MGB. Zum eigenen Erstaunen ärgerte sich Grujewitsch nicht, sondern lachte über die Dreistigkeit der jungen Frau mit den zu einem Zopf gebundenen schwarzen Haaren. »Darf ich Sie zur Wiedergutmachung meines unverzeihlichen Fehlers heute Abend zum Essen ausführen?«, fragte er.
    »Aber es muss das teuerste sein«, lachte sie zurück.
    Die Nacht verbrachten sie in Annas winziger Studentenbude am Trubnajaplatz. Seine Frau Gawrina fragte nicht, Nachtdienst gab es immer wieder. Außerdem war es ihr längst ziemlich egal, ob Grujewitsch zu Hause war oder nicht. Ihr genügte es, dass ihr Mann General im MGB war. Das brachte ihr Ansehen ein, vor allem aber die Berechtigung, in den Sonderläden des Ministeriums Waren zu
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