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Der 13. Brief

Titel: Der 13. Brief
Autoren: Lucie Klassen
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Lehrerpult entfernt, war an den Tischreihen vorbei nach hinten gegangen und stand jetzt vor dem Ausgang.
    Er würde mich nicht hinauslassen.
    Franzi zuckte mitleidig die Schultern. »Wir sehen uns gleich in Physik!« Sie ging zur Tür.
    Scheiße!
    Ich setzte mich wieder.
    Die kleine Schrift mit den großen Anfangsbuchstaben – wie in Jendrick Haberlands Abschiedsbrief. Ahrend hatte Jendricks Abschiedsbrief geschrieben!
    Und er wusste, dass ich es wusste!
    Die meisten anderen waren schon zur Tür raus.
    Lena schnallte gerade ihre Tasche zu.
    Lena!
    Lena war meine letzte Chance!
    Hastig zerrte ich meinen Vokabeltest und meinen Füller aus der Hosentasche. Hol Danner, BITTE!, kritzelte ich mit zitternden Fingern und faltete das Blatt wieder zusammen.
    Als Lena an mir vorbeiging, packte ich ihren Arm und drückte ihr das Stück Papier in die Hand.
    »Fass mich nicht an!«, schnappte sie wütend und riss mir ihren Arm weg.
    Sie würde meinen Zettel zerknüllen, ohne auch nur einen Blick drauf geworfen zu haben. Scheiße!
    »Machen Sie die Tür zu, Lena!«, rief Ahrend ihr nach.
    Noch mal Scheiße!
    Die Tür rummste ins Schloss.

46.
    Ahrend war auf mich zugekommen, stand aber noch immer zwischen mir und der Tür.
    Er lächelte, doch sein Lächeln war unecht. Sein abschätzender Blick erinnerte an eine Giftschlange, die die Maus bereits gebissen hatte und nun abwartete, was geschah. Der grimmige Zug um seinen kräftigen Unterkiefer ließ mich frösteln.
    Er war ein Mörder.
    Ein Mörder, Mörder, Mörder!
    Eine andere Erklärung dafür, dass er Jendrick Haberlands Abschiedsbrief geschrieben hatte, gab es nicht.
    Ich zwang mich, so fröhlich zu wirken, wie es mit einem mittelschweren Herzinfarkt möglich war. »Ich konnte die Vokabeln nicht, weil ich noch nie Französischunterricht hatte!«, erklärte ich leichthin. »Wie Sie wissen, bin ich nur hier, weil ich für Herrn Danner und Herrn Staschek etwas über den Selbstmord Ihrer Tochter herausfinden soll.«
    »Deshalb will ich auch mit dir sprechen.« Ahrend lächelte weiter. »Wie geht es mit den Ermittlungen voran?«
    »Gut. Sie haben sicher gehört, dass Ihr Kollege Dittmer festgenommen wurde. Außerdem haben wir zwei weitere Verdächtige.«
    Ahrend nickte. »Deshalb wundert mich, dass du noch immer hier bist. Was erhofft ihr euch davon?«
    Er ließ mich nicht aus den Augen.
    »Oder was wisst ihr bereits?«, bohrte er nach, bevor mir eine Antwort eingefallen war.
    Ich wich zurück und er folgte mir sofort.
    Ich wusste, dass er einen Mord begangen hatte.
    Und er wusste, dass ich es wusste.
    Ich war die Einzige, die es wusste!
    Er konnte mich nicht entkommen lassen!
    Er wollte sein Leben um jeden Preis weiterführen. Dafür ging er über Leichen.
    Blitzschnell überschlug ich die Möglichkeiten, die mir blieben: Ahrend war gut einen Kopf größer als ich und doppelt so schwer.
    Zur Tür raus ließ er mich nicht und herein konnte niemand, denn die Tür war zugefallen und von außen bekam man sie nur mit diesem verfluchten Schlüssel-Coin auf.
    Außerdem war große Pause. Die nächsten fünfzehn Minuten standen alle Unterrichtsräume leer, alle Schüler hatten das Gebäude verlassen, alle Lehrer schlürften Kaffee im Lehrerzimmer.
    Selbst wenn Lena Danner holte, brauchte sie mindestens fünf Minuten bis in die Sporthalle hinüber – eher acht, weil sie erst noch drüber nachdenken musste, ob sie mir wirklich einen Gefallen tun wollte. Und Danner brauchte wiederum zwei Minuten für den Weg hierher zurück.
    Aber bei Lenas Laune war das sowieso ein Wunschtraum.
    Ahrend hatte fünfzehn Minuten Zeit, mich umzubringen!
    Ich musste ihn hinhalten.
    Also los – direkter Angriff!
    »Sie haben Jendrick Haberland umgebracht!« Ich hörte meine eigene Stimme wie ein weit entferntes Echo in meinem Kopf.
    Hatte ich das gesagt?
    Hatte ich das wirklich gesagt?
    Ich sah, wie Ahrends Hals kürzer wurde, weil sich sein Nacken anspannte, wie seine Schultern plötzlich in die Breite wuchsen, weil er in Kampfposition ging.
    Automatisch stellte ich einen Fuß nach hinten, den anderen nach vorn, obwohl mein Tritt ihm vermutlich so viel anhaben konnte wie einer der Linden im Schulhof.
    Ich tastete in meinen Taschen nach etwas, was als Waffe taugte. Ich fand nur meinen Füller. Weil ich nichts anderes hatte, krampften sich meine Finger darum.
    »Warum?«, hakte ich nach, um ihn abzulenken und so auf Abstand zu halten. »Warum haben Sie ihn umgebracht?«
    Er schnaufte verächtlich.
    »Kommen Sie,
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