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Deine Schritte im Sand

Deine Schritte im Sand

Titel: Deine Schritte im Sand
Autoren: Anne-Dauphine Julliand
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Krankheit sich während des ganzen Jahres weiterentwickeln konnte, die das Transplantat brauchte, um seine Funktionsfähigkeit voll zu entwickeln. Möglicherweise war diese Phase zu lang.
    Doch es gibt andere Resultate, die deutlich ermutigender sind. Der Arzt beschwört mich, mich auf diese positiven Dinge zu konzentrieren. Das MRT von Azylis ist immer noch perfekt. In ihrem Gehirn zeigt sich nicht die geringste Veränderung. Auch alle Ergebnisse der psychomotorischen Tests sind normal ausgefallen, was ohne die Stammzellentransplantation sicher nicht der Fall gewesen wäre. Sie war zweifellos ein Segen für Azylis. Und noch ist nicht alle Hoffnung vergeblich. Die motorischen Fähigkeiten können sich später noch weiter ausbilden.
    Mir sind diese Argumente egal. Ich glaube nicht mehr daran. Azylis wird nicht gesund. Jedenfalls nicht vollständig. In einigen Wochen, höchstens in einigen Monaten, wird sie nicht mehr laufen können. Dann wird sie nicht mehr stehen, später nicht mehr sitzen und schließlich auch nicht mehr sprechen können. Und so wird es weitergehen. Niemand kann diese verdammte Krankheit stoppen.
    Ich spüre weder Aufbegehren noch Wut. Nur eine unendliche Schwäche und eine abgrundtiefe Müdigkeit. Natürlich höre ich ihn immer noch, diesen ständig wiederkehrenden Satz: »Wenn du wüsstest.« Aber ich weiß eben nicht. Und ich bin diese Unsicherheit so satt!
    GANZ GLEICH, WIE DIE NACHT WAR – es wird immer wieder Tag. Ich brauche Zeit, um den Hügel zu erklimmen und wieder Hoffnung zu schöpfen, aber ich werde es schaffen. Mit Loïcs Hilfe. Und indem ich immer einen Schritt nach dem anderen mache.
    Schließlich haben wir nicht erst gestern bei der Lektüre der Ergebnisse erfahren, dass Azylis krank ist. Wir wussten es seit ihrer Geburt. Und seither haben wir unermüdlich gekämpft. Auch sie hat hart gekämpft, obwohl sie noch so klein und so zerbrechlich war. Nie hat sie aufgegeben. Der Kampf entsprach ihrem Wesen; ihre Waffen waren ihre Liebe zum Leben, ihre strotzende Energie, ihre Fröhlichkeit und ihr Vertrauen. Auch sie spürt, dass alles schwieriger wird. Sie merkt, dass ihr Körper ihr nicht mehr so gut gehorcht wie zuvor. Aber sie gibt nicht nach. Heute Morgen hat sie ebenso wie gestern zu ihren Waffen gegriffen und ist losgezogen, das Leben zu erobern. Und uns hat sie dabei mitgerissen.
    Geliebte kleine Azylis, ich habe keine Ahnung, wie dein Schicksal aussehen wird. Ich weiß nicht, ob du den Weg von Thaïs gehen wirst oder eines Tages den von Gaspard erstürmst. Vielleicht findest du ja auch einen ganz besonderen Pfad nur für dich allein. Aber wir werden dich auf deinem Weg begleiten. Jeden Tag. Und wenn du nicht selbst gehen kannst, dann tragen wir dich, damit du wenigstens ein Stück weiterkommst.
    Geliebte kleine Azylis, wir glauben an dich, und wir vertrauen dir. Wir werden dich nicht im Stich lassen. Weder heute noch irgendwann. In dieser Schlacht, die wir ohne Aussicht auf einen Sieg führen, können wir dir keine andere Unterstützung anbieten als unsere Liebe. Eine Liebe ohne Bedingungen.
    Ja, geliebte kleine Azylis, du bist es, die wir lieben – nicht deine Fähigkeiten oder dein Können. Es geht nur um dich und dein Wesen. Nicht um das, was du vollbringen kannst.
    Das wird für immer so sein, meine geliebte kleine Azylis.

D IESE EINE NACHT. WENN ES NUR EINE EINZIGE NACHT GÄBE, wäre es diese. Diese dunkle, kalte Dezembernacht. Sie begann, wie so viele andere, mit dem Versuch, Schlaf zu finden, und mit dem Kampf gegen stürmische Träume. Und doch hat diese Nacht mein Leben verändert. Endgültig und für immer.
    Drei Uhr morgens. Es ist die Stunde, in der alle Gewissheiten von der plötzlich feindseligen Tiefe der Nacht angegriffen werden und ins Wanken geraten. Der vergangene Tag ist weit fort, und am Himmel zeigt sich noch lange kein Morgenrot. Ich schlafe nicht, obwohl meine Lider schwer sind. Ich grübele. Mein Herz krampft sich zusammen. Ich muss zu ihr, wie in so vielen Nächten.
    Leise stehe ich auf und gehe durch die stille Wohnung, in der alle schlafen. Wieder einmal ärgere ich mich über das alte, knarrende Parkett. Ich möchte niemanden wecken. Ich will keinen Zeugen für meinen nächtlichen Ausflug. Ich betrete Thaïs’ Zimmer, ohne Licht zu machen. Ich brauche kein Licht.
    Die Apparaturen summen mit beruhigender Regelmäßigkeit. An der Anzeige für die Sauerstoffsättigung glimmt ein kleiner, roter Punkt. Thaïs liegt bewegungslos in ihrem Bett. Wie immer.
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