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Deine Schritte im Sand

Deine Schritte im Sand

Titel: Deine Schritte im Sand
Autoren: Anne-Dauphine Julliand
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und dann marsch ins Bett.«
    Alex »liest« weiter vor, mit lauter, verständlicher Stimme und äußerst konzentriert.
    JEAN STEHT STOCKSTEIF AM BETT, unbeweglich wie ein Wachsoldat vor dem Buckinghampalast. In der Hand hält er eine knallgelbe Fliegenklatsche aus Plastik. Ehe ich überhaupt eine Frage stellen kann, verteidigt er seine Anwesenheit. »Thaïs kann sich nicht gegen Mücken wehren, die sie stechen wollen. Und deshalb passe ich auf sie auf. Wenn ich eine Fliege oder Mücke sehe – patsch!«, erklärt er mir ernst und wedelt mit der Klatsche wild entschlossen durch die Luft. »Wenn eine Fliege auf Thaïs sitzt, schlage ich natürlich nicht zu. Ich verjage sie mit der Hand. Und wenn sie fliegt, schnappe ich sie mir.«
    Jean beschreibt mir seine Strategie, ohne den Blick von einer kleinen Mücke abzuwenden, die ungeachtet der großen Gefahr über Thaïs’ Bett sirrt.
    Danke, Kinder!

W ANN IST ER GEGANGEN?«
    »Vor etwas mehr als zwei Monaten.«
    »Was? Schon vor zwei Monaten? Und warum?«
    »Er hat eine andere.«
    Ich lege auf. Das, was ich da eben erfahren habe, erschüttert mich zutiefst. Und zwar in zweifacher Hinsicht. Ich bin traurig, dass eine meiner liebsten Freundinnen von ihrer großen Liebe verlassen wurde. Aber fast noch trauriger bin ich, weil sie über zwei Monate gewartet hat, ehe sie mir davon erzählte. Früher haben wir uns jede Kleinigkeit anvertraut, aber jetzt ist alles anders geworden.
    Während der vergangenen zwei Monate habe ich öfter mit ihr telefoniert, doch nie hat sie auch nur ein Sterbenswörtchen davon erwähnt. Nichts – nicht einmal eine Andeutung. Sie muss sich sehr beherrscht haben, dermaßen stumm zu bleiben. Ich stelle mir vor, wie sie die Tränen zurückgehalten und das Zittern in ihrer Stimme zu verbergen versucht hat und sich mit Small Talk begnügte, um nichts über die wirklich wichtigen Dinge sagen zu müssen. Sie muss sich ungeheuer angestrengt haben.
    Natürlich weiß ich, warum sie geschwiegen hat. Es war Rücksichtnahme. Es ist immer dasselbe. »Ich wollte dich nicht belasten. Es ist doch nichts im Vergleich zu dem, was du durchmachst.« Ich schalte jedes Mal auf Durchzug, wenn ich so etwas höre. Ist es denn wirklich notwendig, das eine Unglück mit einem anderen zu vergleichen? Ihm eine Rangordnung zu geben und es zu klassifizieren? Das erzeugt ein schreckliches Gefühl von Minderwertigkeit. Wenn man nämlich solche Maßstäbe anlegt, landet unsere Familie sehr schnell in der Kaste der Unberührbaren. Unser Kummer ist ziemlich weit oben anzusiedeln. Also sind wir unerreichbar. Isoliert in unserer Verzweiflung.
    Mitleid öffnet die Herzen, und mein Herz wird sich bald zusammenkrümmen und verkümmern, wenn es nicht das Leid derjenigen teilen darf, die ich liebe. Und natürlich auch ihre Freude. Wie schwierig ist es doch, mit dem Schuldgefühl glücklicher Menschen umzugehen! Warum hören die Leute auf zu lachen, wenn wir uns nähern? Warum lächeln sie nicht einmal mehr und werden blass? Warum verkrampfen sich ihre Hände? Dabei mache ich mein Unglück durchaus nicht publik und trage es bestimmt nicht wie eine Schärpe bei einer Misswahl auf der Brust. Ich gehe nicht damit hausieren.
    Auch ich möchte mich über gute Nachrichten freuen dürfen, auch über ganz harmlose. Ich wünsche mir, dass meine Freundinnen mich weiter über ihr Liebesleben auf dem Laufenden halten, ebenso wie über ihre berufliche Karriere oder über ihre neuesten modischen Schnäppchen. All das interessiert mich noch immer. Es gehört jetzt zwar weniger zu meinem eigenen Alltag, das stimmt schon, aber es gehört zu dem meiner Freundinnen. Und schon allein deshalb interessiert es mich. Ich bin davon überzeugt, dass man, wenn man den Gedankenaustausch aufrechterhält und über alles und jedes spricht, sehr viel leichter auch schwierige Themen anschneiden kann. Wenn ich mit meinen Freunden lachen darf, können sie vielleicht eines Tages mit mir weinen. Weil die Verbindung nicht abgerissen ist. Sonst entfernt man sich so weit voneinander, dass man sich eines Tages nicht mehr kennt.
    Wenn mich irgendwann einmal jemand fragen sollte, wie er sich uns gegenüber verhalten soll, und mir dabei zum Zeichen seiner Hilflosigkeit die offenen Hände entgegenstreckt, werde ich ihm ohne zu zögern antworten: »Genau wie früher. Wie gegenüber allen anderen auch. Einfach ganz normal.«
    DIESE AUGUSTNACHT IST DIE NACHT DER STERNSCHNUPPEN. Ein feenhaftes Ballett tanzt über die Bühne des dunklen
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