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Deine Schritte im Sand

Deine Schritte im Sand

Titel: Deine Schritte im Sand
Autoren: Anne-Dauphine Julliand
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Thaïs haben wir nur ein einziges Mal ganz normal Geburtstag gefeiert – ihren ersten. Wir feierten ihn glücklich und frei von Sorgen. Damals ahnten wir noch nichts. Ihr zweiter Geburtstag wird uns als einer der schwärzesten Tage unseres Lebens in Erinnerung bleiben. Beim dritten Geburtstag haben wir die Situation ein bisschen ausgenutzt. Wer am 29. Februar geboren wird, kann sich aussuchen, ob er am 28. Februar oder am 1. März Geburtstag feiert. Im ersten Jahr entschieden wir uns für den 1. März; es erschien uns logisch, am Tag nach dem 28. Februar zu feiern. Kurz und gut, an ihrem dritten Geburtstag entschlossen wir uns, gegen alle Regeln zu verstoßen und sowohl am 28. Februar als auch am 1. März zu feiern. Zwei schöne Feste, nicht nur eines. Für uns war das in gewisser Weise ein Trost. Weil sie nicht lange leben wird, haben wir ihren Geburtstag verdoppelt, ohne dass sie dadurch schneller alterte.
    Im kommenden Jahr nun ist alles anders. Der Kalender enthält einen 29. Februar. Ich klammere mich an dieses Datum und bete, dass Thaïs an ihrem Geburtstag immer noch bei uns ist.
    Trauernde Mütter haben mir erzählt, dass der Geburtstag ihres Kindes für sie schwieriger ist als der Todestag. Ich kann sie gut verstehen. Denn die Erinnerung an den Tag der Geburt kehrt jedes Jahr unverändert zurück. Man denkt an das innige Glück und die unendlich zärtlichen Gefühle, an das Versprechen eines Lebens, das man zum ersten Mal in den Armen hält, an die Pläne und Hoffnungen für die durch das Neugeborene verkörperte Zukunft.
    Ich weiß noch genau, wie mir zumute war, als Thaïs geboren wurde. Als man mir mitteilte, dass ich ein kleines Mädchen bekommen hatte, bin ich vor Glück fast geplatzt. Ein kleines Mädchen. Eine Prinzessin. Genau das hatte ich mir erträumt. Während sich die Hebamme noch um sie kümmerte, träumte ich bereits davon, was ich mit ihr alles erleben würde. Ich sah sie mit fünf Jahren, wie sie sich in hübschen Kleidchen gefiel; ich sah sie mit fünfzehn bei ihren ersten Bemühungen, sich zu schminken; ich sah sie mit zwanzig, schon fast als Frau. Und ich liebte alles, was ich da vor mir sah. Wir beide, Mutter und Tochter, wir würden Komplizinnen sein. Und ich fühlte mich plötzlich unendlich stark. Thaïs schien mir ein Gleichgewicht zu geben, ein großes Vertrauen in das Leben. Vielleicht war ich ein wenig naiv, aber ganz und gar ehrlich. Und ich dachte, dass ich, was immer auch kommen mochte, eine Tochter hatte. Was immer auch kommen mochte …
    Lange bedauerte ich, dass Thaïs an einem 29. Februar zur Welt kam. Heute ist es mir lieber so. Auf diese Weise muss ich den Tag ihrer Geburt nur alle vier Jahre erleben. In den anderen Jahren kann ich mich hinter den Tücken des Kalenders verbarrikadieren. Ich dränge mich zwischen den 28. Februar und den 1. März und weine, ohne dass es jemand bemerkt.

D IE RESULTATE BESTÄTIGEN, WAS WIR LÄNGST WISSEN. Azylis’ Gesundheitszustand verschlechtert sich. Sie läuft nicht sicherer, obwohl sie es bereits seit zwei Monaten kann. Nie lässt sie den Finger ihres Vaters los. Und wenn sie es doch einmal allein probiert, fällt sie hin. Diese Stagnation ist kein gutes Zeichen. Und eines Tages sehe ich es ganz deutlich: Ihr eines Füßchen dreht sich. Nicht genau auf die gleiche Art wie bei Thaïs, aber es dreht sich. Und dadurch kommt sie langsamer vorwärts. Und ihre Hand zittert. Nicht immer, aber manchmal, wenn sie den Löffel zum Mund hebt oder den Arm ausstreckt. Es ist so offensichtlich, dass es mir geradezu ins Gesicht springt: Auch bei Azylis entwickelt sich die Krankheit.
    Noch brutaler wird die Wahrheit, als ich die Bestätigung in der Krankenakte lese. Die in diesem Monat durchgeführten Tests zeigen klar, dass die Leitfähigkeit des peripheren Nervensystems deutlich nachlässt. Die motorischen Fähigkeiten schwinden. Wir haben die Entwicklung der Krankheit nicht in den Griff bekommen. Ja, so ist es: Azylis macht Rückschritte. Und ich breche zusammen.
    Ich habe keine Kraft mehr, keine Stimme, kein Leuchten mehr in den Augen. Der Gedanke an das mit dieser Krankheit verbundene Szenario wirft mich in die Situation vor anderthalb Jahren zurück, als wir zum ersten Mal die Bezeichnung metachromatische Leukodystrophie hörten.
    Der Arzt sieht nicht so schwarz wie ich. Natürlich handelt es sich um schlechte Neuigkeiten, aber es ist noch lange keine Katastrophe. Die Verschlechterung des peripheren Nervensystems war vorhersehbar, weil die
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