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David und Goliath

David und Goliath

Titel: David und Goliath
Autoren: Malcolm Gladwell
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ersten Zeitlimits zu nehmen und den Einwurf rechtzeitig abzuschließen, versuchten die Mädchen von Redwood City, sie zur Überschreitung des zweiten Zeitlimits zu zwingen. Sie stürzten sich auf das Mädchen, das den Einwurf angenommen hatte, und störten es. Dafür war Anjali zuständig. Sie rannte auf das ballführende Mädchen zu und breitete die Arme aus. Manchmal gelang es ihr, den Ball zu erbeuten. Manchmal spielte die Gegnerin überhastet ab, oder sie konnte überhaupt nicht passen, die Zeit lief ab und der Pfiff ertönte.
    »Am Anfang hatte niemand eine Ahnung, wie man verteidigt«, erzählt Anjali. »Deswegen hat uns mein Papa das ganze Spiel über immer wieder gesagt: ›deine Aufgabe ist es, dieses Mädchen zu decken und aufzupassen, dass sie beim Einwurf den Ball nicht bekommt.‹ Es ist das Genialste überhaupt, wenn du jemandem den Ball wegschnappst. Wir haben aggressiv gedeckt und viele Bälle gewonnen. Das hat die anderen nervös gemacht. Viele Mannschaften waren viel besser als wir, sie haben schon lange zusammengespielt, aber wir haben gegen sie gewonnen.«
    Die Mädchen von Redwood City führten 4:0, 6:0, 8:0 oder 12:0. Einmal führten sie sogar 25:0. Weil sie den Ball unter dem Korb der Gegner erbeuteten, waren sie selten auf Distanzwürfe angewiesen, die viel Übung erfordern. Sie punkteten mit Korblegern. Zu einem der wenigen Spiele, die Redwood City in dieser Saison verlor, erschienen nur vier Spielerinnen. Sie spielten trotzdem Pressing. Warum auch nicht? Am Ende verloren sie mit drei Punkten Rückstand.
    »Mit dieser Defensive konnten wir unsere Schwächen wettmachen«, erinnert sich Rometra Craig. »Das war der Ausgleich dafür, dass wir keine guten Distanzwerferinnen hatten und dass wir nicht die größten Spielerinnen hatten, denn mit der aggressiven Verteidigung haben wir Pässe abgefangen und mit Korblegern gepunktet. Ich habe den Mädchen nichts vorgemacht und ihnen gesagt: ›Wir sind nicht die beste Mannschaft.‹ Aber sie haben ihre Aufgabe verstanden.« Für Rometra rissen sich die Mädchen die Beine aus. »Sie waren super«, sagt sie.
    Lawrence von Arabien griff die Osmanische Armee da an, wo sie verwundbar war – an den entlegenen Außenposten entlang der Eisenbahnlinie – und nicht da, wo sie stark war, in Medina. Redwood City griff beim Einwurf an, dem Punkt des Spiels, an dem eine starke Mannschaft genauso verwundbar ist wie eine schwache. David ließ sich nicht auf einen Nahkampf mit Goliath ein, den er sicher verloren hätte, sondern hielt Abstand und nutzte das gesamte Tal als Schlachtfeld. Genau wie die Mädchen von Redwood City: Sie verteidigten die gesamten 28   Meter des Spielfelds. Beim Pressing geht es nicht um Arme, sondern um Beine, und die fehlende Technik wird durch Einsatz wettgemacht. Es ist Basketball für Spielerinnen, »die nichts von formaler Kriegsführung verstanden und deren Stärken Beweglichkeit, Ausdauer, Intelligenz, Landeskenntnis und Mut waren«.
    »Diese Strategie ist verdammt anstrengend«, meint Roger Craig. Er und Ranadivé sitzen im Konferenzzimmer von Ranadivés Softwarefirma und erinnern sich an ihre Traumsaison. Ranadivé steht an der Tafel und zeichnet ein Diagramm des Pressings seiner Mannschaft. Craig sitzt am Tisch.
    »Meine Mädchen mussten ausdauernder sein als die anderen«, erzählt Ranadivé.
    »Wir mussten sie dazu bringen, das ganze Spiel über zu laufen«, nickt Craig.
    »Wir haben unsere Strategie vom Fußball übernommen«, erklärt Ranadivé. »Wir haben Lauftraining gemacht. In dieser kurzen Zeit konnte ich ihnen keine Technik antrainieren, deswegen mussten wir dafürsorgen, dass sie fit waren und das Spiel in groben Zügen verstanden haben. Deswegen war die richtige Einstellung so wichtig, denn irgendwann wird man müde.«
    Ranadivé spricht das Wort »müde« mit Anerkennung in der Stimme aus. Sein Vater war Pilot, der von der indischen Regierung eingesperrt wurde, weil er hartnäckig auf die Sicherheitsmängel der indischen Verkehrsflugzeuge hinwies. Ranadivé studierte am Massachusetts Institute of Technology, nachdem er einen Dokumentarfilm über die Eliteuniversität gesehen hatte und zu dem Schluss gekommen war, dass das genau die richtige Hochschule für ihn war. Das war in den 1970er Jahren, als indische Auslandsstudenten nur mit Genehmigung Devisen tauschen durften. Also kampierte Ranadivé vor dem Büro des Präsidenten der indischen Zentralbank, bis er die Genehmigung hatte. Ranadivé ist ein schlanker und
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