Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das zweite Zeichen

Titel: Das zweite Zeichen
Autoren: Ian Rankin
Vom Netzwerk:
gehabt.
»Okay«, sagte sie. Dann wurde die Verbindung unterbrochen.

Die Shore Road war eine Schnellstraße, die im Norden der Stadt an der Küste entlangführte. Die
Gegend war von Fabriken, Lagerhäusern und großen Baumärkten und Möbelläden geprägt. Dahinter lag
ruhig und grau der Firth of Forth. An den meisten Tagen war die Küste von Fife in der Ferne zu
sehen, doch heute nicht, da ein kalter Nebel tief über dem Wasser hing. Auf der anderen Seite der
Straße, den Lagerhäusern gegenüber, standen Mietskasernen, die vierstöckigen Vorgänger der
heutigen Betonklötze. Es gab ein paar Eckläden, wo sich die Nachbarn trafen und Informationen
austauschten, und einige wenige kleine, altmodische Pubs, wo Fremde nicht lange unbemerkt
blieben.
Das Dock Leaf hatte bereits eine Generation von Säufern aus der Unterschicht abgefüllt und nun
die nächste entdeckt. Seine jetzige Klientel war jung, arbeitslos und wohnte zu sechst in
Drei-Zimmer-Mietwohnungen entlang der Shore Road. Kleinkriminalität war hier jedoch kein Problem
­ man beschmutzte sein eigenes Nest nicht. Die alten Gemeinschaftswerte galten noch.
Rebus, der zu früh dran war, hatte noch Zeit für ein Halfpint in der Saloon Bar. Das Bier war
billig und fade, und wenn auch niemand wusste, wer er war, so schienen doch alle zu wissen, was er war. Ihre Stimmen senkten sich zu einem Flüstern, und ihre Blicke waren stur von
ihm abgewandt. Als er um halb drei nach draußen trat, musste er in der plötzlichen Helligkeit
blinzeln.
»Sind Sie der Polizist?«
»Ganz recht, Tracy.«
Sie stand an die Fassade des Pubs gelehnt. Er schützte mit einer Hand seine Augen und versuchte,
ihr Gesicht zu erkennen. Überrascht stellte er fest, dass er einer Frau zwischen zwanzig und
fünfundzwanzig gegenüberstand. Ihr Alter war an ihrem Gesicht abzulesen, auch wenn ihre
Aufmachung sie als ewige Rebellin auswies. Ultrakurze blondierte Haare, zwei Stecker im linken
Ohr (aber keinen im rechten), gebatiktes T-Shirt, enge, ausgeblichene Jeans und rote
Basketballstiefel. Sie war groß, genauso groß wie Rebus. Als seine Augen sich an das Licht
gewöhnt hatten, sah er die Tränenspuren auf beiden Wangen, die alten Aknenarben. Aber es waren
auch Krähenfüße um ihre Augen, ein Zeichen dafür, dass sie früher gerne gelacht hatte. Doch jetzt
war kein Lachen in den olivgrünen Augen. Irgendwo hatte Tracys Leben eine falsche Wendung
genommen, und Rebus hatte das Gefühl, dass sie immer noch versuchte, zu dieser Abzweigung
zurückzukehren.
Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie gelacht, hatte sich ihr Abbild lachend auf der
Wand in Ronnies Zimmer gewellt. Sie war die Frau auf den Fotos.
»Ist Tracy Ihr richtiger Name?«
»Irgendwie schon.« Sie hatten sich in Bewegung gesetzt. Tracy überquerte die Straße an einem
Zebrastreifen, ohne darauf zu achten, ob Autos kamen. Rebus folgte ihr bis zu einer Mauer, wo sie
stehen blieb und auf den Forth hinaus starrte. Sie schlang die Arme um sich und betrachtete den
sich lichtenden Nebel.
»Es ist mein zweiter Vorname.«
Rebus stützte die Ellbogen auf die Mauer. »Wie lange haben Sie Ronnie gekannt?«
»Drei Monate. Seit ich in Pilmuir bin.«
»Wer wohnte sonst noch in dem Haus?«
Sie zuckte die Achseln. »Das wechselte ständig. Wir waren nur ein paar Wochen dort. Manchmal,
wenn ich morgens runterkam, schliefen ein halbes Dutzend Fremde auf dem Fußboden. Das störte
niemanden. Es war wie eine große Familie.«
»Wieso glauben Sie, dass jemand Ronnie getötet hat?«
Sie sah ihn wütend an, doch ihre Augen glänzten feucht. »Das hab ich Ihnen doch schon am Telefon
erzählt. Er hat es mir gesagt. Er war irgendwo unterwegs gewesen und kam mit etwas Stoff
zurück. Er sah allerdings gar nicht gut aus. Normalerweise, wenn er ein bisschen was von dem Zeug
hat, ist er wie ein Kind an Weihnachten. Aber diesmal nicht. Er hatte Angst und verhielt sich wie
ein Roboter oder so was. Er sagte mir immer wieder, ich sollte mich verstecken und dass sie
hinter ihm her wären.«
»Wer?«
»Das weiß ich nicht.«
»War das, nachdem er den Stoff genommen hatte?«
»Nein, das war ja das Verrückte. Es war vorher. Er hatte das Päckchen in der Hand und hat
mich aus dem Haus gestoßen.«
»Sie waren also nicht dabei, als er sich den Schuss gesetzt hat?«
»Um Gottes Willen. Das find ich widerlich.« Ihre Augen durchbohrten ihn förmlich. »Wissen Sie,
ich bin kein Junkie. Ich meine, ich rauche ein bisschen, aber
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher