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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht
Autoren: Kai Meyer
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Frau an der Rezeptio n , m it stre n ger Frisur und noch strengeren Augen, hatte sie darauf hingewiesen, dass die Tür um acht abgeschlossen w u rde: »Zu viel Gesindel auf den Straßen, Sie wissen schon.« Zusammen m it ihrem Zimmerschlüssel hatte sie deshalb auch einen für das Haus
    bekommen; beide hingen am selben Anhänger. Als sie die Pension verlassen hatte, hatte sie den Anhänger im Vorbeigehen auf den Tresen gelegt. Nie m and war da gewesen, der sie hätte zurückrufen können. Nun war die Tür verschlossen, und ihr Schlüssel hing vermutlich an einem Haken hinter der Reze p tion. Es g ab einen Türklopfer, aber s i e war nic h t s i c h er, ob d as Pochen bis zur Pen s ion im dritten Stock h i n aufdrang. Nach zehn Minuten und m ehreren Versuchen hatte i h r n och im m er nie m and geöffnet. Vielleicht wollte m an sie nicht hören.
    »Zu viel Gesindel, Sie wissen schon.«
    Als sie sich wütend umdrehte, um nach einem anderen Pensionsgast Ausschau zu halten, stand der Zifferblatt m ann direkt hinter ihr. Zwölf Uhr zehn. E r lachte i h r meckernd ins Ges i cht, dann schlug er ein Rad und rannte über die Straße d a von. Ein Kutscher brüllte ihm einen Fluch hinterher, als eines seiner Pferde erschrocken ins Stocken geriet.
    Chiaras Herz schlug schneller bei dem Gedanken, stundenlang warten zu müssen, bis irgendein anderer Gast m it Schlüssel auftauchte. Und wenn alle anderen schon auf ihren Zimmern waren? Oder sie der einzige Gast war? Beim Frühstück war sie allein gewesen.
    Auf der anderen Straßenseite befand sich ein kleiner Park m it Bänken. Auf ein e m l ag eine Gestalt m it angezogenen Knien und wandte ihr den Rücken zu. Eine zweite Bank war leer. Von dort aus hatte sie ei n en guten Blick auf die Pension u nd würde re chtz e itig he r überlau f en können, falls je m and kam.
    Der Mann auf der anderen Bank knurrte etwas, ohne zu ihr herüberzublicken. Alles, was sie von ihm sah, war sein sch m utziger grauer Mantel und ein Pelz aus verfilztem Haar. Neben seiner Bank stand das Gestell eines Kinderwagens, schwarz gestrichen, hier und da  abgeblättert; in einem o f fenen Rohr steckte eine vertrocknete Rose.
    Etwas rauschte hoch oben in den Bäu m en. S i e stellte sich vor, dass der Zifferblatt m ann durch das L aub zu ihr herab starrte.
    Die Kirchenuhr hatte längst elf geschlagen, als sie erleichtert einen Betrunkenen entdeckte, der schwankend vor der Tür der Pension stehen blieb und ungeschickt m i t einem Schlüsselbund am Schloss heru m kli m perte. Chiara sprang auf, lief über die Straße und drängte sich wortlos an ihm vorbei ins Haus. Sie fand ihren Schlüssel wie erwartet an dem Brett hinter der verlassenen Rezeption.
    Wenig später fiel s i e erlei c htert aufs Bett. Das S t aune n , das sie bei der Fahrt durch die Straßen überko mm en hatte, legte sich erst ga n z all m ählich. Sie hatte er w artet, dass sich m it der Stille im Zimmer, m it der Einkehr v on Ruhe in ihren Gedanken vielleicht etwas wie Trauer be m erkbar m achen würde. Sie hatte heute ihre Schwester beerdi g t . Sie versuchte, sich ge m e insa m e Szenen aus ihrer Kindheit ins Gedächtnis zu rufen – hätten die nicht eigentlich von allein kom m en müssen? –, doch die Bilder waren distanziert und unscharf, Erinnerungen an eine F re m de.
    Schon als K i nder waren die Mädchen häufig verwechselt worden, obwohl Chiara fünf J a hre jünger war als Jula. Jula nutzte das aus, um anderen Str e iche zu spielen und danach die Schuld auf ihre jü n gere Schwester zu schieben. Die Groß m utter der Mädchen erzähl t e ihnen oft Geschichten, Märchen und Sagen und alte L egenden, und ein m al berichtete sie ihnen von D oppelgängern. Sie behauptete, dass derjenige, der seinem Doppelgänger begegnet, noch am selben Tag sterben m üsse. Ch i ara war da m als zehn, Jula fünfzehn. Am selben Abend erklärte Jula, sie wolle bei einer Freundin schlafen und sei die Nacht über fort. In Wahrheit aber flocht sie sich Zöpfe, wie Chiara sie trug,  und geisterte im Dunkeln durchs Haus, bis sie ihrer Schwester über den Weg lief. Für Chiara war es, als schaute sie in einen Spiegel. Schreiend rannte sie zu ihrem Vater, weil sie dacht e , sie wäre ihrer Doppelgängerin begegnet. Jula fand das sehr ko m isch, und Chiara hasste sie woche n lang dafür. Später h atte auch Chiara gelernt, darüber zu lachen. Heute aber, nach Julas Tod, fand sie nichts A m üsantes m ehr daran, die Geschichte kam ihr blass vor, als wäre sie
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