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Das Zimmer

Das Zimmer

Titel: Das Zimmer
Autoren: Andreas Maier
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Autobahn, die Automobile jetzt alle mit eingeschaltetem Licht und wie kleine Glühwürmchen durchs Bild. Wäre J. nur wenige Jahre vorher geboren worden, hätte er als Kind von hier aus die Baustelle der Autobahn bewundern können. Es wäre die größte Baustelle seines Lebens gewesen, vor allem die längste. Einen ganzen Maschinenpark hätte er sehen können, wie er durch die Wetterau gezogen kam, sich langsam durch die Landschaft wälzend und hinter sich eine mehrspurige Reichsautobahn zurücklassend, über die manseitdem fahren kann, immer geradeaus und international angeschlossen von Sizilien bis Oslo, vielleicht sogar bis Helsinki, heute heißt sie Bundesautobahn. Damals standen die Wetterauer am Straßenrand und dachten, jetzt sind wir das Zentrum der Welt, und alle feierten, und die Zeitungen feierten auch. Eine neue Welt. Wo auch immer sie diese Autobahn bauten, dachten plötzlich alle, jetzt seien sie das Zentrum der Welt, weil alle Welt nun genau an ihnen vorbeikam. Allerdings kam alle Welt seitdem auch an allen anderen vorbei. Trotzdem wurde in jedem Landkreis jeder neue Zubringer so gefeiert, als sei die Welt endlich genau auf diesen Landkreis aufmerksam geworden und als habe man ihn endlich aus seinem Dornröschenschlaf geholt. Und wer selbst ein Automobil hatte, fuhr hinter Bad Nauheim, nur um es einmal auszuprobieren, gleich am ersten Tag auf die Autobahn und fuhr dann, einige Kilometer weiter, bei Friedberg wieder herunter und konnte seitdem immer sagen, auch ich bin sie gefahren, die Autobahn. Die Wetterau ist eigentlich eine Autobahn mit angeschlossener Raststätte. Jetzt sieht mein Onkel auch die Baustelle der Raststätte, hinten im Bild, wo sich die Glühwürmchen schnurstracks auf und ab bewegen, als seien sie plötzlich verrückt geworden und wollten nur noch, so schnell es geht, vorwärts und irgendwo ankommen. Wie die Pakete auf der Hauptpost im Frankfurter Hauptbahnhof für meinen Onkel immer aus der großen weiten Welt kamen, Barcelona vielleicht oder Appenzell, so kommen hier gerade die Automobile extra für ihn aus Amsterdam oder vielleicht aus Mailand oder sogar aus Rom, wo der Papst lebt, der Nachfolger Christi, für dessen Geburt jedes Jahr an Weihnachten die Glocken des Stephansdoms in Wien läuten, wenn mein Onkel vor dem Radio sitzt, um sie zu hören. In jedem Glühwürmchen steckt eine ganze Welt. So fühlt sich J. sicher und beruhigt und dazugehörig und angeschlossen an die ganze Welt, bei der auch er dabeisein darf, und das macht die Bundesautobahn 5.
    Und schon befindet sich mein Onkel im Anstieg zum Winterstein. Der Variant müht sich nun merklich. Der Weg geht geradeaus aufwärts und ist asphaltiert. Auf halbem Weg kommt ihm Licht entgegen, ein Fahrzeug, und plötzlich steht ein Amerikaner vor ihm am Straßenrand in voller Montur, leuchtet ihm mit einer Lampe ins Gesicht und ruft Stop ! Der Amerikaner hat, wie alle Amerikaner in der Wetterau, ein kalkweißes Gesicht, das sieht man sogar noch bei Nacht. Er wirkt aufgeregt und hektisch, stellt sich neben den Wagen und macht Gesten, die meinem Onkel bedeuten, daß er an den Rand fahren soll. Mein Onkel fährt an den Rand und bleibt dort stehen. Jetzt sind plötzlich noch zwei weitere Amerikaner da, sie scheinen aus dem Wald zu kommen. Einer raucht, alle haben amerikanische Soldatenhelme aufund sind geschäftig. Jetzt kommt ein Geländewagen vorbeigefahren, allerdings ohne von den drei Soldaten Notiz zu nehmen. Einer der Amerikaner spricht in ein Sprechfunkgerät hinein. Mein Onkel steigt aus.
    Hey you , ruft einer der Amerikaner.
    I , sagt mein Onkel (ei). Eigentlich kann er kein Englisch.
    Yes you , ruft der Amerikaner und verzieht dabei sein Gesicht, als sei er angewidert, daß jetzt hier gerade ausgerechnet so ein Deutscher auftauchen muß.
    Da mein Onkel des Englischen nicht mächtig ist, bis auf Worte wie I oder you und yes und no (Grundverständigungsmittel der Besatzungsmacht gegenüber), kann er dem, was der Amerikaner ihm nun zu sagen hat, natürlich nicht folgen. Der Amerikaner fuchtelt mit seinem Maschinengewehr in Richtung meines Onkels, so daß sich dieser lieber ganz in die Nähe des Variants stellt. Und nun beginnt, leise und von fern, ein Geräusch hörbar zu werden, das mein Onkel kennt. Alle vier, die drei Amerikaner und mein deutscher Onkel, schauen die Straße hinauf. Oben kommt ein Licht auf die Straße gebogen, das Geräusch wird lauter, ein zweites Licht wird hinter dem ersten Licht sichtbar, und nun kommen
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