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Das Zimmer

Das Zimmer

Titel: Das Zimmer
Autoren: Andreas Maier
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seinen Gang gehen kann, denn er kann ja nichts dafür. Für so eine Behinderung, denkt er oft, kommt der J. eigentlich ganz gut durch. Kann sogar seiner Familie ein bißchen helfen, und man muß ihm ja nicht auch noch zeigen, daß er ein kompletter Vollidiot ist, ein Vollidiot mit Führerschein (und Variant). So stehen sie noch zwei, drei Minuten am Grab und schauen zum Abschluß gemeinsam schweigend zu dritt auf den Grabstein, die darauf versammelten Namen und den darüber eingemeißelten Grabspruch.
    Hier harren der Auferstehung
    Dann gehen sie auseinander, und während J. dem Brunnen zustrebt, um dort die Kanne mit einem Fahrradschloß anzuschließen, zuckt Weber die Schultern, als wolle er sich seiner Schwester gegenüber entschuldigen, und zeigt J. hinter seinem Rücken pflichtgemäß einen Vogel (den Finger mehrfach an die Stirn tippend), um seiner Schwester ordnungsgemäß und regelgerecht anzuzeigen, daß er natürlich wisse, daß J. ein Idiot sei, und daß er sich genau deshalb ihm gegenüber so verhalte wie eben. Und indem die Schwester noch sagt, J.s Familie und gerade auch der neue Mann, wenn er aus einer so hochgestellten Familie kommt, hätten doch wirklich genug Geld, sich selbst um ihr Grab zu kümmern, da müsse man bei denen doch nicht auch noch aufräumen,verschwinden die beiden langsam im Sonnenlicht des Nachmittags zwischen den Linden und Kastanien, den Rosen und den schwarzen, marmorierten Grabsteinen aus unseren Steinbrüchen …

7
    Nun fährt J. folgende Strecke: Vom Friedhof fünfzig Meter die Schmidtstraße, dann rechts einbiegen in die Gebrüder-Lang-Straße, nach hundert Metern rechts in die Untere Liebfrauenstraße, da kommt nach weiteren hundert Metern der Mühlweg mit unserem Grundstück. Erst die Apfelbäume, dann der Ort, wo die Ställe standen, da ist gerade die Baugrube (da bin ich aufgewachsen), dann die Firma, eine Halle nach der anderen, teils verglast, alles hinter einer großen schwarzen Mauer mit weißen Fugen. In der Mitte das Verwaltungsgebäude, eine alte Mühle, die sogenannte Falksche Mühle. Eine Mühle ohne Mühlrad, denn der Fluß, der hier früher verlief, ist schon längst verlegt und umgeht jetzt sein altes Flußbett und auch unser Firmengrundstück. Immer mußten sie umgehen, die Wetterauer, und immer vor allem sich selbst. Vor der Mühle befindet sich das große Eingangstor, durch das die Arbeiter geschäftig ein- und ausgehen und die Transporter hinein- und wieder hinausfahren, wenn auch nicht mehr so häufig wie unter Wilhelm Boll, denn die Geschäfte laufen nicht mehr gut im Jahr der Mondlandung. Wie immer würde mein Onkel gern den Variant durch das Tor hineinfahren (so wie sein Vater stets seinen Wagen dort hineingefahren hat), aber auf dem Firmengelände steht der Variant immer nur im Weg, also läßt er es lieber sein und stellt sein Automobil auf der Straße ab. Auf dem Trottoir steht er eine Weile und beschaut sich die Baugrube meines Elternhauses. Das größte Haus im ganzen Barbaraviertel. Ein Haus der Onkel-J.-Superlative. Das glaubt er, obgleich er noch gar nichts sieht (am Ende wird es wirklich so groß, ich bin tatsächlich in einem Onkel-J.-Superlativismus aufgewachsen). Die Arbeiter arbeiten teilweise, trinken gerade allesamt Bier, und J.s Schwester steht bei ihnen und gibt sachlich die erforderlichen und ordnungsgemäßen Anweisungen, fast wie ein Vorarbeiter. Woher sie das kann? Dann spaziert J. zur Firma hinein und wird überall hochachtungsvoll und freundlich begrüßt. Tatsächlich wissen alle, das ist der Sohn vom verstorbenen Chef, und alle bringen ihm gegenüber Respekt zum Ausdruck. J. ist von ihnen schon früher, als junger Mann, hier gern gesehen worden, die meisten hatten damals noch nicht begriffen, daß er ein Idiot war. Die Familie des Chefs war für die Belegschaft mit dem Chef quasi identisch, wie in Personalunion. Auch wenn einige bald begriffen hatten, daß der Chef mit seinem Sohn nicht auf gutem Fuß stand und der Sohn überdies nicht ganz gewöhnlich war, um nicht zu sagen, nicht ganz normal. Und sie hatten ihn tatsächlich ein wenig in die Firma einzuführen versucht, sie hatten ihm die Maschinen erklärt, manchmal ein Werkzeug in die Hand gedrückt, manchmal hatte er in einem Laster über den Hof mitfahren oder beim Schweißen zusehen dürfen (mit Schweißermaske vor dem Gesicht), aber das lag schon lange zurück. Heute war J. kein Kind und kein Jugendlicher mehr, man ließ ihn nicht mehr im Laster mitfahren … Heute war
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