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Das Zeit-Tippen

Das Zeit-Tippen

Titel: Das Zeit-Tippen
Autoren: Jack Dann
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änderte und alles drunter und drüber ging. Seine Frau verschwand, und eine neue kam an ihrer Stelle zurück. Eine neue Golde, eine mit weniger Falten und Runzeln, eine mit vollem weißem Haar und Zahnlücken.
    Bei ihrer Ankunft sagte sie nur: „Es stimmt fast. Du bist der alte geblieben, Paley. Gehst du immer noch zur Schul?“
    „Zur Schul?“ fragte Litwak, fest entschlossen, nicht aufzuspringen und loszubrüllen und Gott um Hilfe anzuflehen. Trotz all der Veränderungen wollte Litwak standhaft bleiben und auf Gott warten. „Was für eine Schul?“
    „Willst du damit sagen, daß du es nicht aus der Schul weißt, dabei trägst du so eine Jarmulke auf dem Kopf?“ Sie zog ihre Babuschka durch die Finger. „Eine Schul. Eine Synagoge, ein Tempel. Betest du?“
    Litwak war kein heiliger Mann, aber er konnte den Kopf erheben und furchtlos Gott anblinzeln. Gewiß betete er. Und in den nächsten Wochen saß Litwak öfter in der Schul als nicht – also hatte Golde Einfluß auf ihn; schließlich war sie seine Frau. Was gab es denn sonst? Mit Gott führte er ein Einbahngespräch – von Litwaks Mund zu Gottes Ohr –, aber zu Hause verhielt es sich umgekehrt. Dort hatte Litwak keinen Mund, sondern nur Ohren. Wie kann man mit einer Frau sprechen, die Unzucht mit anderen Männern für heilig hält?
    Aber Litwak war ein Überlebenskünstler; während die übrige Welt überschnappte und Purzelbäume schlug, blieb er der gleiche. Nicht einmal reiste er in eine andere Zeit, nicht eine Stunde verlor oder gewann er; und die einzigen Orte, die er aufsuchte, waren die, die er zu Fuß erreichen konnte. Er war eine Ausnahme auf die Regel. Die übrige Welt ließ sich treiben; alle schwammen vorbei und tauchten von der Vergangenheit oder Zukunft in die Gegenwart hier oder wer weiß wo sonst.
    Es war eine neue Welt. Handel füllte jede Straße, Karneval jede Nacht. Die Tage bauten sich aus fremden Gesichtern auf, und die Nächte vergingen so schnell, daß Litwak in der Synagoge blieb, um die Zeit zu glätten. Aber für Litwak gab es keine Zeit, nur Gottesdienste und Gebete und heilige Gerüche.
    Aber die Welt ging weiter. Das Geschäft verlief fast wie üblich. Es gab immer noch Rabbis und Chassidim und Krämer und Kabbalisten; der dicke Hoffa, ein Gemeindemitglied mit einem Bart, um den ihn ein Baalschem beneidet hätte, behauptete sogar, er kenne einen Kabbalisten, der eine neue Gematria ersonnen habe, um alles über Geld voraussagen zu können.
    „Und wer braucht schon eine Gematria?“ fragte Litwak. „Reise ins Morgen und stelle fest, was sich tut.“
    „Irrtum“, sagte Hoffa, als er seinen Gebetsriemen auf seinen Arm legte und auf ein Verstummen der Unterhaltung wartete, um die heiligen Worte zu sprechen, ehe er seinen Talis anlegte. „Es nützt nichts, dorthin zu reisen, wenn man nicht zurückkann. Und wenn man zurückkommt, hat sich sowieso alles geändert. Wen kennst du, der tatsächlich zurückgekehrt ist? Betrachte dich doch selbst, gestern hast du noch keine grauen Haare und Schläfenlocken gehabt.“
    „Dann hast du nicht mich gesehen. Hat man, wenn jeder außer mir reist, hin und her reist, sozusagen im Mund des Teufels ein und aus reist, überhaupt Zeit, diese neue Gematria zu benutzen?“
    Hoffa sagte nach einer Pause: „Die Welt muß sich also weiterdrehen. Du glaubst vielleicht, sie bleibt stehen, weil der Himmel sie erschüttert…“
    „Bist du so sicher, daß es der Himmel ist?“
    „… aber du kannst den Kabbalisten aufsuchen – du bist der Gegenwart verhaftet, du hältst an einer Linie fest. Geh zu ihm; er spricht passables Jiddisch, und seine Frau spaziert mit nacktem Hintern herum.“
    „Wieso weißt du, daß er jetzt da ist?“ fragte Litwak. „Sie kommen und gehen. Vielleicht nimmt ein Neandertaler oder Klesmer aus der Zukunft seinen Platz ein.“
    „Na und? Was spielt es schon für eine Rolle, wenn er nicht da ist? Zumindest wirst du erfahren, daß er irgendwo anders ist. Oder etwa nicht? Alles geht weiter. Nichts geht verloren. Alles paßt irgendwie. Darauf kommt es an.“
    Litwak brauchte ziemlich lange, um die neue Zeitlogik zu lernen, aber nachdem es ihm gelungen war, gereichte es ihm zum Vorteil – vor allem, als seine Rentenüberweisungen nicht eintrafen. Litwak wurde ein tüchtiger Altwarenhändler, aber er betrog nur nach der Logik der Gesellschaft und nach seinem eigenen ethischen System: eine Hälfte für die Schul und die andere für Litwak.
    Litwak stellte fest, daß er mehr
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