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Das Wuestenhaus

Titel: Das Wuestenhaus
Autoren: Gernot Wolfram
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besaßen rote Äderchen, die an Blutkapillaren erinnerten. Andere waren gewöhnliche Strandkiesel in felsigem Grau, und manche zeigten lediglich körnig blinkende Kristallspuren auf ihrer Oberfläche. Er liebte es, an Stränden entlangzugehen, Steine aufzusammeln und sie in einem blau karierten Taschentuch verschwinden zu lassen.
    Damals waren das alles vertraute Dinge für mich, Gegenstände, die es schon immer gegeben hatte, solange ich mich erinnern konnte. Ihre Formen, Farben und Gerüche, ihr sauberer, unnahbarer Glanz hinter dem Glas der Vitrine und die Bemerkungen, die mein Vater über sie machte, waren das Allerselbstverständlichste. Eine Welt für sich, die nun, wo diese Dinge verpackt in irgendwelchen Kisten liegen, unendlich fern und fremd für mich geworden ist.
    So viele nebensächliche Bilder fallen mir ein, so viele Dinge, die an sich vollkommen unbedeutend sind. Sie sollen die Details erfahren, um zu verstehen, welche Zerstörungen eingetreten sind.

    Abends, wenn er aus der Schule kam, hockte mein Vater häufig vor seinem Computer und schrieb Briefe an die Redaktionen verschiedener Literaturzeitschriften, um ihnen seine Geschichten anzubieten. Manchmal veröffentlichte er ein paar Sachen in einer kleinen Literaturzeitung in Freiburg, leider ohne je eine Reaktion von Lesern darauf zu erhalten oder ein Honorar zu bekommen. Meistens ging es in diesen Geschichten um Menschen, die er auf Reisen getroffen hatte. Es waren Beschreibungen früherer Fahrten nach Frankreich, Griechenland, Kolumbien oder in andere Länder, die er als Student durchquert hatte. Es geschah jedoch kaum etwas in diesen Geschichten. Er nannte sie seine kleinen »Abendgeschichten«.
    Ich erinnere mich zum Beispiel an die Geschichte eines jungen Mannes, vielleicht ein Selbstporträt meines Vaters, der zum ersten Mal auf einem Pferd ohne Sattel einen weiten Abhang hinunterreitet, oder an die Beschreibungen von alt gewordenen Flugtauben in einem Dorf, Tiere, die keiner mehr brauchte und die, ohne gefüttert zu werden, in einem alten Holzverschlag vor sich hin vegetierten. Mein Vater schrieb gern über Tiere.
    Sein großer Traum war es gewesen, diese »Abendgeschichten« einmal in einem kleinen Buch herauszubringen.
    »Warum schickst du nicht einfach mal ein Manuskript an einen richtigen Verlag und wartest die Antwort ab?«, sagte meine Mutter einmal kurz vor unserer Reise zu ihm.

    »Das muss von selbst kommen. Man kann das nicht erzwingen. Außerdem schreibe ich für mich. Ich biete mich nirgendwo an.«
    »Ich glaube, du kannst nur nicht mit Absagen leben.«
    »Weil ich die Geschichten nicht an einen Verlag schicke, machst du daraus gleich eine Charakteranalyse?«
    »Es ist nur eine Vermutung. Weil ich dich kenne.«
    »Sag doch einfach, dass du schlecht findest, was ich schreibe.«
    »Nur weil mir nicht alles gefällt, heißt es nicht, dass ich es schlecht finde.«
    »Ich mache das ohnehin nur für mich.«
    »Das stimmt nicht.«
    »Es ist meine Angelegenheit. Vielleicht wird es ja Maja interessieren, wenn sie älter ist.«
    Er war empfindlich und verletzbar, was seine kleinen Texte betraf, vielleicht ein Zeichen dafür, wie wichtig sie ihm waren. Mit der Zeit vermied er es, meiner Mutter etwas von dem, was er geschrieben hatte, zu geben. Ich glaube, er hat nie verstanden, dass sie eigentlich sein Talent bewunderte und überzeugt war, dass seine Texte eine Chance hatten, publiziert zu werden.
    Eine Zeit lang schrieb er auch mit Leidenschaft Leserbriefe an unsere örtliche Zeitung. Wenn sie gedruckt wurden, las er uns beim Frühstück vor, was von seinen meist langen Briefen übrig geblieben war, wobei er ständig Kommentare dazwischenwarf. »Die
wichtigsten Sätze haben sie rausgelassen. Wenn du nicht den gewünschten Ton triffst, ist eben kein Platz mehr. Die zensieren das einfach.«
    Während des Vorlesens hielt er meistens seine Hand an die Schläfe, sodass die Finger seine kurzen braunen Haare berührten.
    Meine Mutter mochte es nicht, wenn er beim Frühstück über diese Leserbriefe oder über Politik sprach. Besonders in den Wochen, bevor wir auf die Insel fuhren, hatte es immer wieder Streit zwischen ihnen gegeben. Es lag eine ungute, vibrierende Spannung zwischen den beiden, selbst in den einfachsten Gesprächen, die sie miteinander führten. Angefangen hatte es damit, dass meine Mutter eines Tages davon sprach, ein Kind adoptieren zu wollen. Mein Vater hielt diesen Vorschlag für absurd. Vielleicht spürte er, dass es meiner
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