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Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht

Titel: Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht
Autoren: Kai Meyer
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strang wälzte.
    » Über dem Eis kann er uns sehen! «, rief Niccolo.
    » Und wir ih n «, gab Mondkind zurück, aber das letzte Wort war nur ein Ächzen. Er spürte, wie sie gegen seinen Rücken sackte und ihr Gesicht an seinem Oberarm hinab glitt. Die Seidenbänder hielten sie, doch ihre eigene Kraft war endgültig aufgebraucht.
    » Mondkind! «
    Keine Antwort.
    » Bitt e «, flehte er verzweifelt, » d u musst noch durchhalten. Nur noch ein wenig! « Er redete Unsinn und wusste es. Noch ein wenig? Er hatte keine Ahnung, wie weit e s b is zu diesen verfluchten Grotten war. Die Himmelsberge mochten sich über tausende Kilometer hinziehen, und womöglich lag der Zugang zu den Dongtian an ihrem anderen Ende.
    Er schaute zurück, als ihm bewusst wurde, was Mondkind da eben gesagt hatte. Tatsächlich – über dem breiten Band aus Schnee und Eis konnte er ihren Verfolger jetzt deutlich sehen. Die schwarze Silhouette des Unsterblichen auf seinem Kranich war jetzt keine zweihundert Schritt mehr entfernt.
    Ihr eigener Vogel setzte zu einem Sturzflug an, noch immer mit unfassbarer Geschwindigkeit, und Niccolo dämmerte, dass der Kranich gerade sein Letztes gab. Er würde diese Anstre n gung nicht lange durchhalten. Das Tier war bereit, für sie zu sterben, und womöglich war es genau das, was Mondkind von ihm verlangt hatte: seine allerletzten Reserven, ein verzweifeltes Klammern an nichts als eine vage Hoffnung.
    Der Kranich schoss hinab in ein Labyrinth aus Eisspalten. Nachtschatten flossen durch die verästelten Risse wie Teer. Der Vogel stieß in die Finsternis hinab. Für Niccolo versank die Welt in Dunkelheit. Er sah nichts mehr, spürte nur noch den eisigen Wind, der ihnen entgegenschlug, und manchmal die Nähe einer zerklüfteten Wand, das Vorüberzischen einer Kante, wenn der Kranich sich auf die Seite legte und scharf nach rechts oder links bog. Sie wussten jetzt, wie nahe Guo Lao ihnen gekommen war, und nun ging es nur noch darum, ihn in diesem Irrgarten aus Eis und Fels und Schwärze abzuhängen.
    Er rief noch einmal Mondkinds Namen, aber sie reagierte nicht. Plötzlich zweifelte er, dass sie selbst bei dieser waghals i gen Geschwindigkeit schnell genug sein konnten.
    Mondkind würde sterben. Egal, wie lange die Kraft des Gö t terschwertes oder ihre Flucht auf dem Kranich es hinauszögern konnten – am Ende dieses Ritts durch die Einöde der Himmel s berge stand nichts als der Tod.
    Der Kranich stieg steil nach oben. Die Seidenbänder spannten sich, als Mondkind nach hinten zu stürzen drohte. Auf einmal waren sie wieder im Freien, oberhalb des Eislabyrinths, und der Vogel legte sich zurück in die Horizontale. Keine zwanzig Meter über dem zerfurchten Boden jagten sie dahin, jetzt auf einen schroffen Felshang zu, schwarz und grau gesprenkelt, durchzogen von Adern aus verharschtem Schnee.
    Niccolo schaute sich um. Guo Lao war noch näher gekommen, jetzt keinen Steinwurf entfernt, wie ein Schatten, den sie selbst auf das Eis am Fuß des Berges warfen.
    Beinahe wünschte sich Niccolo, dass der Xian ihm etwas zurufen würde, eine Drohung, irgendetwas, das ihn von einer übermenschlichen Gefahr wieder zu einem Verfolger aus Fleisch und Blut machen würde. Stattdessen aber saß er ihnen wie ein schwarzer Geist im Nacken, ein Wesen aus einem Albtraum.
    Der Kranich stieß ein krächzendes Wimmern aus, als er seine beiden Reiter den Berg hinauftrug, über einen engen Pass hinweg, dann wieder hinab in einen neuen Abgrund . Es musste tausende solcher Klüfte in diesen Bergen geben , bodenlose Schluchten und Talkessel, in die niemals ein Mensch seinen Fuß gesetzt hatte. Niccolo bezweifelte, dass er selbst bei Tageslicht Spuren einer Besiedlung entdeckt hätte. Diese Berge mochten ebenso gut das Ende der Welt sein, eine lebensfeindliche Ödnis im unerbittlichen Griff des ewigen Eises.
    Der Vogel bog um weitere Kehren aus Granit, jagte an Stei l wänden vorüber, rauschte durch Spalten, die kaum breiter waren als die Spannweite seiner Schwingen. Bald sahen sie eine weitere Felsklamm, eng und lang gestreckt, an deren Ende eine senkrechte Granitwand emporwuchs, überschattet von einem Gipfel, der gut und gern die Hälfte des Sternenhimmels verdec k te.
    Im unteren Teil der Felswand, dort, wo ihr Fuß in eine unwe g same Schräge aus Geröll und scharfkantigen Gesteinsbrocken überging, zeichnete sich ein senkrechter Spalt ab, mindestens hundert Meter hoch. Von Weitem sah es aus, als würde der Schatten eines riesenhaften
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