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Das Wirken der Unendlichkeit

Das Wirken der Unendlichkeit

Titel: Das Wirken der Unendlichkeit
Autoren: Carlos Castaneda
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Juan erlebt hatte, bis ins kleinste Detail eine kontinuierliche Erinnerung ohne jede Unterbrechung. Don Juan hatte beklagt, daß ein Nagual wegen des Volumens seiner Energiemasse zwangsläufig fragmentiert sei. Er hatte erklärt, jedes Fragment erlebe einen bestimmten Abschnitt des gesamten Spektrums, und daß die Ereignisse, die er in jedem Fragment erlebe, eines Tages wieder zusammengesetzt werden müßten, um ein vollständiges und bewusstes Bild von allem zu schaffen, was in seinem Leben stattgefunden hat. Don Juan hatte mir in die Augen geblickt und gesagt, es würde viele Jahre in Anspruch nehmen, diese Integration zu erreichen. Man hatte ihm von Nagualen erzählt, denen die völlige Integration ihres Tuns auf bewusste Weise nie gelungen war und die fragmentiert leben mussten.
    Das, was ich an jenem Morgen bei Ship’s erlebte, hätte ich mir in meinen wildesten Träumen nicht vorstellen können. Don Juan hatte mir immer wieder gesagt, die Welt der Zauberer ist nicht unveränderlich. Es gibt dort nicht das letzte unveränderliche Wort. Die Welt der Zauberer ist in ewiger Bewegung, und nichts darin darf man als selbstverständlich betrachten. Der Sprung in den Abgrund hatte meine Wahrnehmung so drastisch verändert, daß jetzt unbeschreibliche Möglichkeiten von gewaltigen Ausmaßen von meinem Bewusstsein zugelassen wurden.
    Aber alles, was ich über die ntegration meiner kognitiven Fragmente hätte sagen können, verblaßte im Vergleich zu der Realität. An jenem schicksalhaften Morgen bei Ship’s erlebte ich etwas unendlich Stärkeres als an dem Tag, an dem ich zum ersten Mal Energie sah, wie sie im Universum fließt. Das war, als ich mich auf dem Campus der UCLA befand und schließlich in meinem Büroapartment im Bett lag, ohne nach Hause gegangen zu sein, wie es mein Bewusstseinssystem verlangte, damit das Ereignis Wirklichkeit sein konnte. Bei Ship’s integrierte ich alle Fragmente meines Wesens. In einem Teil meines Spektrums hatte ich mit vollkommener Sicherheit und Konsequenz gehandelt, und trotzdem wusste ich nicht, wie ich das gemacht hatte. In Wahrheit war ich ein gigantisches Puzzle, und jedes Teil dieses Puzzles an die richtige Stelle zu bringen bewirkte etwas, für das ich keinen Namen hatte.
    Ich saß an der Theke von Ship’s und schwitzte heftig. Ich machte mir nutzlose Gedanken und stellte zwanghaft Fragen, auf die es keine Antworten gab. Wie konnte all das möglich sein? Wie konnte ich auf solche Weise fragmentiert gewesen sein? Wer sind wir eigentlich? Ganz bestimmt sind wir nicht die Menschen, die man uns einredet zu sein. Ich hatte Erinnerungen an Ereignisse, die sich nie ereignet hatten, soweit es einen Kern meiner selbst betraf. Ich konnte nicht einmal weinen. »Ein Zauberer weint, wenn er fragmentiert ist«, hatte Don Juan einmal zu mir gesagt. »Wenn er integriert ist, dann überkommt ihn ein Schauer, der infolge seiner Intensität die Macht hat, sein Leben zu beenden.« Diesen Schauer erlebte ich! Ich bezweifelte, meine Gefährten jemals wiederzusehen. Ich hatte den Eindruck, sie seien alle mit Don Juan verschwunden. Ich war allein. Ich wollte darüber nachdenken, meinen Verlust betrauern. Ich wollte mich der befriedigenden Melancholie überlassen, so wie ich das immer getan hatte. Ich konnte es nicht. Es gab nichts zu betrauern. Es gab nichts, um melancholisch zu sein. Nichts zählte. Wir alle waren Krieger-Wanderer, und wir alle waren von der Unendlichkeit verschlungen worden.
    Die ganze Zeit hatte ich gehört, wie Don Juan über den Krieger-Wanderer sprach. Mir hatte die Beschreibung sehr gefallen. Ich hatte mich auf einer rein emotionalen Ebene damit identifiziert. Trotzdem hatte ich nie empfunden, was in Wirklichkeit damit gemeint war, ganz gleich, wie oft er mir die Bedeutung der Metapher erklärt hatte. In jener Nacht an der Theke bei Ship’s wusste ich, worüber Don Juan gesprochen hatte. Ich war ein Krieger-Wanderer. Nur energetische Fakten hatten für mich eine Bedeutung. Alles andere war unwichtiges Beiwerk!
    Als ich in jener Nacht auf mein Essen wartete, hatte ich noch einen anderen sehr klaren Gedanken. Ich empfand eine Welle der Sympathie, eine Welle der Identifikation mit Don Juans Grundsätzen. Ich hatte schließlich das Ziel seines Unterrichts erreicht. Ich war wie nie zuvor in Übereinstimmung mit ihm. Es war nie der Fall gewesen, daß ich Don Juan oder seine Konzepte, die für mich revolutionär waren, bekämpft hätte, weil sie nicht das Kriterium des linearen
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