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Das Wirken der Unendlichkeit

Das Wirken der Unendlichkeit

Titel: Das Wirken der Unendlichkeit
Autoren: Carlos Castaneda
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Waden anzuregen. Aber ich wusste nicht genau, ob es besser war, sie tief oder mit einem Kissen hoch zu legen.
    Als ich eine angenehme Lage gefunden hatte und wieder am Einschlafen war, meldete sich ein Gedanke mit einer so unbeschreiblichen Wucht, daß ich mit einem Satz aufstand. Ich war in Mexiko in einen Abgrund gesprungen! Als nächstes zog ich eine quasi logische Schlußfolgerung. Da ich vorsätzlich in den Abgrund gesprungen war, um zu sterben, musste ich jetzt ein Geist sein. Wie seltsam, daß ich als Geist in mein Büroapartment an der Ecke Westwood und Wilshire in Los Angeles zurückgekehrt sein sollte, nachdem ich tot war. Kein Wunder, daß ich mich anders als sonst verhielt. Aber wenn ich ein Geist war, sagte ich mir, wie hatte ich dann die frische Nachtluft im Gesicht spüren können oder die Schmerzen in den Waden?
    Ich betastete die Bettücher. Sie fühlten sich sehr real an, auch der eiserne Bettrahmen. Ich ging ins Bad. Ich betrachtete mich im Spiegel. Meinem Aussehen nach hätte ich ein Gespenst sein können. Ich sah erschreckend aus. Die Augen waren eingefallen und hatten große schwarze Ringe. Ich war völlig ausgetrocknet oder tot. Unwillkürlich trank ich Wasser direkt vom Wasserhahn. Ich konnte das Wasser schlucken. Ich trank Schluck um Schluck, als hätte ich seit Tagen nichts getrunken. Ich spürte meine tiefen Atemzüge. Ich war lebendig! Bei Gott, ich war am Leben! Ich wusste es ohne jeden Zweifel, aber das löste in mir keine Freude aus, wie es der Fall hätte sein sollen. Mir kam ein sehr ungewöhnlicher Gedanke. Ich war schon einmal gestorben und wieder ins Leben zurückgekehrt. Das war also nichts Neues für mich. Es bedeutete mir nichts. Die Klarheit dieses Gedankens machte ihn gewissermaßen zu einer Erinnerung. Es war nicht eine Quasierinnerung an Situationen, in denen mein Leben in Gefahr gewesen war. Es war etwas völlig anderes. Es war eher ein unbestimmtes Wissen über etwas, das sich nie ereignet hatte und für das es keinen Grund gab, sich in meine Gedanken zu drängen.
    Ich zweifelte nicht daran, daß ich in Mexiko in einen Abgrund gesprungen war. Ich befand mich jetzt in meinem Apartment in Los Angeles, also beinahe fünftausend Kilometer von der Stelle entfernt, an der ich gesprungen war, und ich hatte absolut keine Erinnerung an die Rückreise. Aus alter Gewohnheit ließ ich mir ein Bad einlaufen und setzte mich in die Wanne. Ich spürte die Wärme des Wassers nicht. Mir war eiskalt. Von Don Juan hatte ich gelernt, daß man in einer Krise wie dieser laufendes Wasser als eine Art Reinigung benutzen muss. Das fiel mir ein, und ich ging in die Dusche. Ich ließ vielleicht eine Stunde lang das heiße Wasser über meinen Körper laufen.
    Ich wollte ruhig und vernünftig über alles nachdenken, was mir widerfahren war, aber es gelang mir nicht. Die Gedanken schienen aus meinem Bewusstsein gelöscht zu sein. Ich hatte keine Gedanken mehr, aber mich erfüllten bis zum Bersten Empfindungen, die meinen ganzen Körper wie ein Sperrfeuer attackierten, so daß es mir nicht gelang, sie zu untersuchen. Ich konnte nur den Ansturm spüren und alles durch mich hindurch gehen lassen. Ich faßte jedoch einen bewussten Entschluß. Ich zog mich an und verließ die Wohnung. Ich wollte etwas essen. Das tat ich aus alter Gewohnheit zu jeder Tages- und Nachtzeit im Ship’s Restaurant am Wilshire Boulevard an der nächsten Straßenecke.
    Ich war so oft von meinem Büro zu dem Restaurant gegangen, daß ich jeden Schritt kannte. Diesmal war mir der Weg jedoch neu. Ich spürte meine Schritte nicht. Ich schien Kissen unter den Füßen zu haben, oder der Gehweg schien mit einem Teppich ausgelegt zu sein. Ich glitt praktisch dahin und stand plötzlich vor dem Restaurant, als hätte ich nur zwei, drei Schritte gemacht. Ich wusste, ich würde das Essen schlucken können, denn ich hatte im Apartment Wasser getrunken. Ich wusste auch, daß ich sprechen konnte, denn ich hatte mich unter der Dusche geräuspert und laut geflucht. Ich betrat das Restaurant wie immer. Ich setzte mich an die Theke, und eine Kellnerin, die mich kannte, kam zu mir. »Sie sehen nicht gut aus«, sagte sie. »Haben Sie die Grippe?«
    »Nein«, erwiderte ich so munter wie möglich. »Ich habe schwer gearbeitet. Ich habe vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen, um eine Studienarbeit zu schreiben. Übrigens, was für einen Tag haben wir heute?« Sie blickte auf ihre Uhr und nannte mir das Datum. Sie erklärte, es sei eine besondere Uhr mit
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