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Das wird mein Jahr

Das wird mein Jahr

Titel: Das wird mein Jahr
Autoren: Sascha Lange
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Stehen und reichte unsere Reisepässe rein. Der uniformierte Grenzer kontrollierte mit ausdrucksloser Miene unsere Dokumente und die gestempelten Visa für Ungarn. Abwechselnd schaute er auf die Passfotos und auf uns im Wagen. Die Grenzübergangsstelle war überdacht und von Neonlampen in ein kaltes, helles Licht getaucht. Sie brummten genauso monoton wie die in den Klassenzimmern meiner Berufsschule. Hinter uns hörte man das Knattern eines Trabants.
    »Was ist Ihr Reiseziel in der ungarischen Volksrepublik?«, fragte der Beamte.
    »Campingurlaub in Siófok am Balaton«, antwortete Andi.
    »Haben Sie vor, sich dort mit Personen aus dem nichtsozialistischen Ausland zu treffen?«
    »Nein, um Gottes Willen«, gab Andi belanglos zurück. Wir anderen schüttelten stumm unsere Köpfe. Ich musste unwillkürlich nach unten schauen. Andi hatte mir doch gestern noch erzählt, dass sein älterer Bruder dort sein würde. Es wäre das erste Treffen der beiden, seitdem Jens ausgereist war. Sie hatten sich bei einem Telefonat letzteWoche in umständlich verschlüsselten Wortspielereien alles ausgemacht.
    »Na, den Herrgott lassen Sie mal lieber aus der Sache raus«, erwiderte der Grenzbeamte trocken. Er schaute immer noch auf unserer Pässe, die für uns nicht sichtbar vor ihm lagen, vielleicht verglich er auch mit einer Namensliste. Hatten die das Telefonat zwischen Andi und Jens abgehört und Meldung erhalten? Oder war es, weil zur Zeit immer mehr Zonis über die ungarisch-österreichische Grenze abhauten?
    »Bitte fahren Sie dort rechts rüber zu den Kollegen.« Der Grenzer zeigte mit der Hand in Richtung zweier Beamter, die auf einem Seitenstreifen der überdachten Fahrbahn schon zu uns rüberblickten. Wir schauten uns kurz an, und Andi lenkte den Wartburg in ihre Richtung.
    »Bitte alle aussteigen.« Der eine Grenzer stand direkt neben Andis Fahrertür, während der andere bereits mit prüfenden Blicken um den Wagen schlich. Etwas ratlos standen wir da. Was nun?
    »Bitte öffnen Sie den Kofferraum.« Die Stimme des Beamten klang monoton und bedrohlich zugleich, obwohl er von der Statur her eher eine Bohnenstange mit SVK--Brille und beschissenem Haarschnitt war. Bestimmt hatte er diesen Job gewählt, um die Autorität, die ihm seine Mitmenschen im zivilen Leben versagten, hier grenzenlos auszuleben. Und das tat er jetzt. Er würde entscheiden, wie viel von unserem Gepäck wir vor ihm auspacken müssten und wann wir weiterfahren dürften.
    Andi öffnete die Kofferraumtür und Katrins Reisetasche purzelte ihm direkt vor die Füße. Anke kramte in ihremkleinen Rucksack und sprach den Grenzer freundlich an: »Diese Fahrt ist eine Auszeichnung für die besten Lehrlinge aus Leipzig-Grünau, verliehen vom FDJ-Kollektiv des Jugendclubs Rakete.« Sie zog ein Schreiben aus ihrer Tasche und reichte es dem Beamten.
    Der nickte stumm, während er das Papier mit dem FDJ--Briefkopf scheinbar aufmerksam und sehr langsam durchlas. Vielleicht hatte er auch Mühe, den Text durch seine Mitropa-Aschenbecher-dicken Brillengläser zu lesen. Der zweite Grenzer trat hinzu und blickte ebenfalls auf das Schreiben und auf uns. Wir blickten erwartungsvoll die Uniformierten an.
    Der erste ging mit dem Wisch rüber in das Häuschen, in dem immer noch unsere Pässe lagen. Wir hörten durch die offene Tür, wie gesprochen wurde. Schließlich ertönte das erlösende Stempelgeräusch, viermal. Der Grenzer kam zurück zu unserem Wagen und gab uns die Ausweise wieder.
    »So verehrte Jugendfreunde – gute Fahrt! Auf Wiedersehen.«
    Ich stopfte schnell Katrins Tasche wieder in den Kofferraum und stieg ein, die anderen ebenfalls. Andi startete und fuhr langsam an. Im Wagen war es totenstill. Zehn Meter weiter standen tschechoslowakische Grenzbeamte und winkten uns mit einer gelangweilten Handbewegung durch. Andi beschleunigte den Wagen.
    »Das waren vielleicht ein paar Kunden«, sagte er in die Stille des Wagens. Ein tiefes Ausatmen entfuhr ihm dabei.
    »Mensch, Anke, wo hast du denn den Wisch her?«, fragte ich.
    »Hab ich selber geschrieben, schließlich bin ich ja der FDJ-Fuzzi in der Rakete. Mein Vater hat mir den Tipp gegeben. Wenn sein Töchterchen auf Reisen geht, dann soll nichts schiefgehen. Ihr kommt doch alle wieder mit zurück, oder?«
    »Na klar.« Alle nickten. Dann war wieder Stille und Anke legte eine neue Kassette in den Rekorder.
    Der Wagen rollte über die Landstraße weiter durch die Nacht. Die Stunden vergingen. Anke hatte ihren Sitz nach
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