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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Autoren: Elizabeth Gilbert
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Würdenträger und Sammler mit der begründeten Hoffnung nach Kew, Samen und Ableger zu erhalten und vielleicht auch Proben aus Banks’ umfangreichem Herbarium – doch Banks wies sie alle ab.
    Der junge Henry bewunderte den botanischen Geiz des Joseph Banks (er hätte seine Schätze auch nicht geteilt, wenn er welche gehabt hätte), doch bald erkannte er, dass die verärgerten Gesichter der abgewimmelten internationalen Besucher seine Chance waren. Wenn er vor der Anlage von Kew darauf wartete, dass sie die Gärten verließen, bekam er mit, wie sie Sir Joseph Banks auf Französisch, Deutsch, Holländisch oder Italienisch verfluchten. Dann ging Henry auf sie zu, fragte die Männer, welche Pflanzen sie wünschten, und versprach, selbige bis Ende der Woche zu besorgen. Immer war er mit einem Papierblock und einem Zimmermannsbleistift ausgerüstet. Wenn die Männer kein Englisch sprachen, ließ Henry sie aufzeichnen, was sie brauchten. Alle waren exzellente botanische Zeichner und konnten ihm ihre Wünsche mühelos vermitteln. Am späten Abend huschte Henry dann in die Treibhäuser, vorbei an den Arbeitern, die in kalten Nächten die riesigen Öfen befeuerten, und stahl Pflanzen für Geld.
    Er war genau der Richtige dafür. Pflanzenbestimmung war seine Stärke, er hatte Geschick im Umgang mit den empfindlichen Ablegern, war in den Gärten ein so vertrautes Gesicht, dass er keinen Verdacht erregte, und versiert im Verwischen seiner Spuren. Das Beste aber war, dass er offenbar keinen Schlaf brauchte. Tagsüber arbeitete er mit seinem Vater in den Obstgärten, und nachts stahl er – seltene, wertvolle Gewächse, Frauenschuh, tropische Orchideen und fleischfressende Wunderpflanzen aus der Neuen Welt. Er verwahrte die botanischen Zeichnungen, welche die distinguierten Gentlemen für ihn anfertigten, und studierte sie so lange, bis er von allen Pflanzen, nach denen die Welt verlangte, jeden Staubbeutel und jedes Blütenblatt kannte.
    Wie alle guten Diebe war Henry überaus gewissenhaft, was die eigene Sicherheit betraf. Niemandem vertraute er sein Geheimnis an, und die Einkünfte vergrub er an verschiedenen Stellen in den Gärten von Kew. Niemals gab er auch nur einen Viertelpenny davon aus. Er ließ sein Silber still im Boden schlummern wie einen guten Wurzelstock. Es sollte wachsen und gedeihen und irgendwann so gewaltig hervorbrechen, dass er sich damit das Recht erkaufen konnte, ein reicher Mann zu werden.
    Binnen eines Jahres hatte Henry mehrere Stammkunden. Einer von ihnen, ein alter Orchideenzüchter vom Botanischen Garten in Paris, machte dem Jungen das vielleicht erste Kompliment seines Lebens: »Du bist ein nützlicher kleiner Spitzbube, dem es nicht widerstrebt, sich die Finger schmutzig zu machen, stimmt’s?« Im zweiten Jahr betrieb Henry bereits einen schwungvollen Handel mit exotischen Pflanzen, die er nicht nur an seriöse Botaniker, sondern auch an vermögende Londoner Adelskreise verkaufte, die für ihre Privatsammlungen nach solchen Exemplaren verlangten. Im dritten Jahr schickte er illegale Pflanzenableger nach Frankreich und Italien, sachgerecht in Moos und Wachs verpackt, damit sie die Reise überstanden.
    Als das dritte Jahr zu Ende ging, wurde Henry Whittaker erwischt – von seinem eigenen Vater.
    Mr Whittaker, der normalerweise über einen festen Schlaf verfügte, hatte eines Nachts bemerkt, dass sein Sohn nach Mitternacht das Haus verließ. Mit bangem Gefühl seinem väterlichen Instinkt folgend, war er dem Jungen bis zum Treibhaus hinterhergeschlichen und hatte alles gesehen, die Suche, den Diebstahl, das fachgerechte Verpacken. Er begriff sofort, dass hier ein Räuber sorgsam zu Werke ging.
    Henrys Vater hatte seine Söhne niemals geschlagen, nicht einmal wenn sie es verdienten (und sie verdienten es oft), und auch in dieser Nacht schlug er Henry nicht. Er stellte ihn auch nicht zur Rede. Henry merkte gar nicht, dass er erwischt worden war. Nein, Mr Whittaker tat etwas sehr viel Schlimmeres. Gleich am nächsten Morgen bat er um eine persönliche Audienz bei Sir Joseph Banks. Es war eher ungewöhnlich, dass ein armer Schlucker wie Whittaker überhaupt um ein Gespräch mit einem Gentleman wie Banks ersuchen konnte, aber Henrys Vater hatte sich in dreißig unermüdlichen Arbeitsjahren so viel Respekt erworben, dass seiner Bitte ausnahmsweise stattgegeben wurde. Er war zwar ein armer alter Mann, doch immerhin war er auch der Apfelmagier – der Retter des königlichen Lieblingsbaumes –, und
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