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Das weiße Amulett

Das weiße Amulett

Titel: Das weiße Amulett
Autoren: Kathinka Wantula
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dünnen Leder bemerkte. Sie öffnete den Rucksack und musste feststellen, dass irgendein spitzer Gegenstand ihre Ägypten-Zeitschrift mit dem Ramses-Bericht durchbohrt hatte, während ihr abgenutztes Traumtagebuch glücklicherweise unversehrt geblieben war. Erst der dicke Paris-Baedeker hatte den Gegenstand aufhalten können. Leicht verärgert betrachtete Karen die zerrissenen Seiten des Reiseführers. Immerhin war er noch zu gebrauchen. Also steckte sie den Baedeker, ihr Portemonnaie und Julius’ Arbeitsmappe in die Handtasche und verließ das Zimmer.
    Der Stadtplan im Baedeker zeigte, dass das Panthéon mit den Grabstätten von Voltaire und Victor Hugo nicht weit von ihrem Hotel lag, aber bei dem schönen Wetter wollte sie sich nicht mit alten Grüften beschäftigen. Also marschierte sie zur nächsten Metrostation, kaufte sich eine Wochenkarte und fuhr auf direktem Weg zum Butte Montmartre.
    Eine Viertelstunde später stieg sie die berühmte Treppe von Sacré-Cœur hinauf und setzte sich oben auf die letzte Stufe. Trotz der Touristengruppen und Souvenirverkäufer um sie herum genoss sie den weiten Blick auf die Stadt, die am Horizont in einem leichten sandfarbenen Dunst versank. Rechts von ihr versteckte sich der Eiffelturm hinter einigen Bäumen, während der blaue Turm des Montparnasse vor ihr in der Sonne glänzte; in weiter Ferne war die Kuppel des Panthéon zu erkennen, und die Türme der Notre-Dame verschwanden sanft im Meer der Sandsteinhäuser.
    Karen blickte auf die vielen Dächer und Häuser der Stadt, als plötzlich eine tiefe Melancholie sie erfasste.
    Obwohl sie von vielen Menschen umgeben war, fühlte sie sich allein und verlassen. Ihr Herz krallte sich zusammen.
    Von einer inneren Unruhe getrieben, stand sie auf und ging ziellos durch die Straßen am Montmartre, ehe sie sich wieder beruhigte und sich in eine Brasserie setzte. Sie bestellte einen Kaffee und starrte mit leerem Blick auf das bunte Schauspiel der Porträtmaler, die den Touristen ihr Talent anboten. Warum hatte sie der Anblick von Paris so durcheinander gebracht? Warum diese plötzliche Melancholie? Mit einer matten Handbewegung schob sie die Tasse beiseite und griff nach ihrer Arbeitsmappe. Es war nicht viel, was Julius ihr mitgegeben hatte, nur einige kurze Notizen über Bernhardts Jugendzeit und sein Studium in Marburg. Karen las gerade einen Zeitungsartikel, als ihr Handy klingelte. Das Display zeigte den Namen ihres Bruders.
    »Hallo, Kay. Na, was gibt’s?«
    Karens Bruder war einige Jahre älter als sie und rief nur selten an. Er lebte mit seiner Frau und der kleinen Johanna in Berlin, während Karen in Hamburg wohnte.
    »Hallo, Schwesterchen, na, wie geht’s? Sonnst du dich gerade am Strand, oder arbeitest du ausnahmsweise mal?«
    Er hörte sich fröhlich an, was selten war. Beruflich war er mit seinen Forschungen an der Humboldt-Universität immer im Stress. Zum Nachteil seiner Familie.
    »Du solltest dich besser kurz fassen, Kay. Ich bin in Paris, und das Gespräch könnte ziemlich teuer werden.«
    »Paris?« In seiner Stimme schwang leichte Verwunderung mit. »Vive la France! Was machst du in Paris?«
    »Arbeiten. Julius hat mir einen neuen Auftrag gegeben.«
    »Soso, der gute Julius. Und diesmal hat er dich nach Paris geschickt? Na, das nenn ich einen traumhaften Arbeitsplatz. Wo stör ich denn gerade? Im Louvre oder im staubigen Kirchenarchiv?«
    Es tat gut, seine spöttischen Bemerkungen zu hören.
    »Du störst mich in einer Brasserie in der Nähe von Sacré-Cœur, wenn du es genau wissen willst.« Ihr Blick blieb für eine Sekunde an einem von Julius’ Zeitungsartikeln hängen, in dem über Bernhardts englischen Kollegen berichtet wurde, als sie auf einmal eine Idee hatte. Ihr Bruder kam aus demselben Fachgebiet wie der Professor. Vielleicht wusste er etwas über ihr neues Studienobjekt? »Kennst du zufällig einen Prof. Gerald Bernhardt?«
    Kay schien einen Augenblick zu überlegen. »Müsste ich den kennen?«
    »Ich weiß nicht. Er lebte vor hundert Jahren in Paris und hat irgendetwas mit Chemie zu tun. Er war mit einem gewissen Sir Frederick Gowland Hopkins aus Cambridge befreundet.«
    »Frederick Hopkins kommt mir vom Namen her bekannt vor, aber ich kann dir im Augenblick nicht sagen, woher.«
    »Soll ein Nobelpreisträger gewesen sein.«
    »Hopkins, Hopkins, Hopkins«, überlegte Kay laut. Allmählich dämmerte es ihm. »Ja, das stimmt. Jetzt erinnere ich mich an den Namen. Sollst du über ihn schreiben?«
    »Nein,
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