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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
Autoren: Ted Chiang
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die Leute ihren Geschäften nachgehen, und auch wenn niemand etwas sagt, sind die unterschwelligen Botschaften offenkundig. Ein junges Paar spaziert vorbei; die blinde Verehrung des einen wird vom anderen gerade so geduldet. Sorge flackert auf und verfestigt sich, als einem Geschäftsmann, der sich vor seinem Vorgesetzten fürchtet, Zweifel an einer Entscheidung kommen, die er heute getroffen hat. Eine Frau umgibt sich mit einer Aura vorgeblicher Perfektion, doch die Maske verrutscht, als sie wahrer Verfeinerung begegnet.
    Wie immer durchschaut man nur bei größerer geistiger Reife die Rollen, die jemand spielt. Für mich wirken alle diese Menschen wie Kinder auf einem Spielplatz; ihr ernster Eifer amüsiert mich, und voller Scham erinnere ich mich daran, dass ich mich auch einmal so verhalten habe. Sie agieren völlig angemessen, aber ich selbst könnte es nicht ertragen, daran teilzuhaben; als ich zum Mann wurde, tat ich ab, was kindisch war. Mit der Welt der gewöhnlichen Menschen möchte ich mich nur befassen, soweit es für meinen Lebensunterhalt notwendig ist.
    Mit jeder Woche eigne ich mir Jahre der Bildung an und setze dabei immer größere Muster zusammen. Aus einem weiteren Blickwinkel als je ein Mensch zuvor blicke ich auf das Geflecht menschlichen Wissens; ich kann Lücken darin schließen, die kein Gelehrter je wahrgenommen hat, und die Textur an Stellen bereichern, die zuvor als vollständig galten.
    Die offensichtlichsten Muster findet man in den Naturwissenschaften. In der Physik bietet sich eine wunderbare Vereinheitlichung an; sie betrifft nicht nur die Ebene der fundamentalen Wechselwirkungen, sondern einfach alle Bereiche und Anwendungsmöglichkeiten. Fachgebiete wie »Optik« oder »Thermodynamik« sind nichts anderes als Zwangsjacken, die den Blick für die zahllosen Querverbindungen verstellen. Abgesehen von dem rein ästhetischen Vergnügen sind dadurch zahlreiche praktische Anwendungen nicht verwirklicht worden. Schon vor Jahren hätten Ingenieure künstliche, sphärisch-symmetrische Gravitationsfelder entwickeln können.
    Nachdem mir das klar geworden ist, werde ich trotzdem kein solches oder auch ein anderes Gerät bauen. Man würde dafür viele eigens angefertigte Komponenten brauchen, die alle nur mit großer Mühe und großem Zeitaufwand zu beschaffen sind. Außerdem würde mir die Konstruktion einer solchen Vorrichtung keine besondere Befriedigung verschaffen, denn ich bin mir ohnehin sicher, dass sie funktionieren würde; es würden dadurch keine neuen Gestalten sichtbar werden.
    Ich mache mich nun an eine ausgedehnte Dichtung. Es ist ein Experiment – wenn ich mit einem Gesang fertig bin, werde ich einen Ansatz haben, wie ich die Muster aller Kunstgattungen zu einem Ganzen verweben kann. Ich verwende sechs moderne und vier alte Sprachen; sie beinhalten mehr oder weniger die bedeutenden Weltanschauungen der menschlichen Zivilisation. Jede Sprache bringt andere Bedeutungsnuancen und poetische Wirkungen mit sich; manche der Gegenüberstellungen sind eine wahre Freude. In jeder Zeile des Gedichts entstehen Wortneuschöpfungen durch Deklination in anderen Sprachen. Wenn ich das ganze Stück vollenden würde, würde es als Finnegans Wake multipliziert mit Pounds Cantos gelten.
    Meine Arbeit wird von der CIA unterbrochen; sie haben eine Falle mit einem Köder für mich ausgelegt. Nach zwei Monaten vergeblicher Versuche ist ihnen klargeworden, dass sie mich mit konventionellen Methoden nicht aufspüren können, also gehen sie nun zu drastischeren Mitteln über. In den Nachrichten wird berichtet, dass die Freundin eines geisteskranken Mörders angeklagt wurde, ihm bei seiner Flucht geholfen zu haben. Der Name, der genannt wird, lautet Connie Perritt, mit der ich im letzten Jahr zusammen war. Es gilt als ausgemacht, dass sie im Fall einer Verurteilung für längere Zeit ins Gefängnis kommen wird; die CIA hofft darauf, dass ich das nicht zulassen werde. Sie erwarten, dass ich irgendetwas unternehme, wodurch ich mich verrate und geschnappt werden kann.
    Connies vorläufige Anhörung ist für morgen angesetzt. Sie werden dafür sorgen, dass sie auf Kaution freikommt, wenn nötig durch einen Bürgen, sodass ich die Gelegenheit habe, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Dann werden sie rund um ihre Wohnung jede Menge verdeckte Ermittler postieren und auf mich warten.
    Ich beginne damit, am Terminal das erste Bild zu bearbeiten. Im Vergleich zu Holos sind diese digitalen Fotos geradezu minimalistisch, aber
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