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Das vierte Opfer - Roman

Das vierte Opfer - Roman

Titel: Das vierte Opfer - Roman
Autoren: H kan Nesser
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abzurennen, hatte Reinhart bei irgendeiner Gelegenheit mal gesagt.
    Aber das, was ihn in erster Linie bestürzte, war die Überlegung, wie schlecht der Fall im Rückblick aussehen würde. Sein eigener Einsatz war gewiß auch nichts, auf das er stolz sein konnte. Eher im Gegenteil.
    Mit anderen Worten, es war doch nicht ganz wie sonst.

47
    Etwas, das sie von innen auffraß? Oder langsam betäubte. Eine Bewegung, die dazu verdammt war, zu ersterben?
    Ungefähr so. Ungefähr so fühlte es sich an. Sofern sie überhaupt noch etwas fühlte.
    Die Zeit, die es noch gab, bestand in den abnehmenden Rhythmen und Bedürfnissen ihres Körpers. In dieser betäubenden Dunkelheit war der Tagesrhythmus vollkommen zerstört worden, sie schlief und wachte auf, blieb wach und schlief wieder ein. Es war nicht möglich, festzustellen, wie lange etwas dauerte, vielleicht war es draußen Tag, vielleicht war es Nacht ... vielleicht hatte sie acht Stunden lang geschlafen oder aber nur zwanzig Minuten? Hunger und Durst tauchten nur als blasse Signale von etwas auf, das sie eigentlich nichts anging, aber sie aß trotzdem aus der Schale mit Brot und Obst, die er ab zu und wieder füllte. Trank aus der Wasserflasche.
    Ihre Hände und Füße waren gefesselt, ihre Beweglichkeit stark eingeschränkt, nicht nur durch den Raum; sie lag unter den Decken zusammengekauert, fast in einer Art Fötusstellung, sie stand nur auf, wenn sie zum Eimer mußte, um sich ihrer Notdurft zu entledigen ... hüpfend tastete sie sich vor. Die Gerüche, die von dort kamen, hatten sie anfangs gestört, aber bald roch sie sie gar nicht mehr. Der satte Erdgeruch war das einzige, was sie die ganze Zeit spürte, der sie sofort an ihre Lage erinnerte, wenn sie aufwachte, der ihr die ganze Zeit bewußt war.
    Unterbrochen wurde er nur von dem angenehmen Tabaksgeruch, wenn er bei ihr saß und erzählte.
    Verebbt war auch die unerträgliche Angst der ersten Zeit. Sie hatte sich zurückgezogen und war von etwas anderem ersetzt worden: von einem schwerfälligen Gefühl der Lethargie und des Überdrusses, vielleicht nicht direkter Hoffnungslosigkeit, aber einem immer stärkeren Gefühl, daß sie nur irgendein dahinvegetierendes, dahinsiechendes Wesen war, das sich nach und nach nur noch auf einen schlaffen, unempfänglichen Körper reduzierte ... einen Körper, der auch den inneren Eindrücken, Gedanken und Erinnerungen gegenüber immer gleichgültiger wurde. Die äußere Finsternis fraß sich nach innen, wie es schien, drang langsam und beharrlich unter ihre Haut ... und gleichzeitig begriff sie, daß genau das vielleicht ihre Überlebenschance war, ihre einzige Möglichkeit, nicht verrückt zu werden. Hier einfach unter den Decken zu liegen und die Körperwärme, so gut es ging, bei sich zu behalten. Träume und Phantasien kommen und gehen zu lassen, wie sie wollten, ohne sie näher in Augenschein zu nehmen – in wachem wie in schlafendem Zustand.
    Und keine Hoffnung zu haben. Sich nichts vorzustellen und nicht darüber nachzudenken, wie die letztendliche Lösung aussehen würde. Einfach nur dazuliegen. Nur darauf zu warten, daß er kam und seine Geschichte weitererzählte.
    Über Heinz Eggers und Ernst Simmel.

    »Nein«, sagte er, und sie hörte, wie er das Zellophan von einer neuen Zigarettenpackung abriß. »Ich weiß nicht, ob damals schon alles verloren war, als sie aus Aarlach zurückkam. Oder ob es immer noch eine Chance gab. Natürlich spielt es jetzt im nachhinein keine Rolle mehr, es ist müßig, darüber zu spekulieren... schließlich ist es ja doch so gekommen, wie es kommen mußte.«
    Er zündete sich seine Zigarette an, und das kurz aufflammende Feuer des Feuerzeugs blendete sie fast.
    »Sie kam zurück, und wir wußten nicht, ob wir hoffen oder mißtrauisch sein sollten. Natürlich taten wir beides; man kann nicht in purer Verzweiflung leben – erst wenn man die endgültige Einsicht hat, aber dann spielt es eigentlich keine Rolle mehr. Nun ja, jedenfalls wollte sie nicht wieder bei uns wohnen. Wir besorgten ihr eine Wohnung in Dünningen. Bereits Anfang März zog sie dort ein; es waren nur ein Zimmer, Küche und Bad, aber trotzdem ziemlich groß. Hell und sauber, im fünften Stock und mit Blick aufs Meer vom Balkon aus. Sie war immer noch krankgeschrieben und nur bedingt arbeitsfähig. Körperlich entgiftet und ging zur Therapie, sollte es jedenfalls. Sie hatte nachmittags einen Job bei Henkers. Aber wie sich später herausstellte, kam sie dem nicht nach.
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