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Das verwundete Land - Covenant 04

Das verwundete Land - Covenant 04

Titel: Das verwundete Land - Covenant 04
Autoren: Stephen R. Donaldson
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mißgelaunten Güte, als fände er das menschliche Verhalten ebenso unbegreiflich wie liebenswert. Wenn er unter seinem weißen Schnauzbart lächelte, strafften sich unterhalb der Augen die Tränensäcke zu einem Ausdruck von Ironie.
    »Dr. Avery«, sagte er, nach dem mühsamen Treppensteigen etwas außer Atem.
    »Dr. Berenford ...« Sie wollte ihren Unwillen über die Störung durchblicken lassen; deshalb geschah es mit deutlich gepreßter Stimme, als sie »Bitte treten Sie ein!« hinzufügte und ihm den Eingang freigab.
    Er kam in die Wohnung und schaute umher, während er zu einem Stuhl strebte. »Sie sind schon eingezogen«, stellte er fest. »Gut. Ich hoffe, jemand hat Ihnen geholfen, alles hier raufzuschaffen.«
    Sie nahm auf einem Stuhl in seiner Nähe Platz und setzte sich aufrecht hin, als wäre sie im Dienst. »Nein.« Wen hätte sie denn um Hilfe bitten können?
    Dr. Berenford machte Ansätze zu einer Äußerung der Entrüstung. Sie unterbrach ihn mit einer Geste des Abtuns. »Kein Problem. Ich bin ja so was gewohnt.«
    »Naja, so dürfte es aber wohl nicht sein.« Sein Blick, der auf ihr ruhte, bezeugte vielschichtige Interessiertheit. »Sie haben erst kürzlich Ihre assistenzärztliche Tätigkeit in einer bestens angesehenen Klinik beendet und dort hervorragende Arbeit geleistet. Da ist es doch das wenigste, was Sie vom Leben erwarten können müßten, daß jemand Ihnen dabei hilft, Ihre Möbel die Treppen hinaufzutragen.«
    Sein Tonfall war nur halb humorig; aber Linden durchschaute die Ernsthaftigkeit, die sich darin verbarg, denn die Frage, die dahinter steckte, war während der Einstellungsgespräche mehr als einmal zur Sprache gekommen. Wiederholt hatte er gefragt, warum jemand mit ihren Empfehlungen sich um eine Stelle in einem minderbemittelten Kreiskrankenhaus auf dem Lande bewarb. Ihre für ihn zurechtgelegten, glattzüngigen Antworten hatten ihm nicht genügt; schließlich war sie gezwungen gewesen, ihm die Tatsachen zumindest annähernd einzugestehen. »Meine Eltern sind beide in der näheren Umgebung so einer Ortschaft wie hier gestorben«, hatte sie gesagt. »Sie waren kaum in mittleren Jahren. Hätten sie unter der Obhut einer guten hausärztlichen Betreuung gestanden, könnten sie heute noch am Leben sein.«
    Das war sowohl die Wahrheit wie auch unwahr, und es hatte mit den Wurzeln der Zwiespältigkeit zu tun, infolge der sie sich so alt fühlte. Wäre das Melanokarzinom ihrer Mutter früh genug richtig diagnostiziert worden, hätte man sie durch eine Operation mit neunzigprozentiger Aussicht auf Erfolg retten können. Und wären die Depressionen ihres Vaters frühzeitig von jemandem mit Sachkenntnis oder hinlänglichem Gespür beobachtet worden, hätte sein Selbstmord sich vielleicht verhindern lassen. Umgekehrt jedoch ergab sich gleichfalls eine Wahrheit; nichts hätte ihre Eltern zu retten vermocht. Sie hatten sterben müssen, weil sie ganz einfach zu untüchtig für ein längeres Leben gewesen waren. Wann immer Linden über derartige Dinge nachdachte, schien es ihr, als würden ihr die Knochen mit jeder Stunde morscher.
    Sie war in dies Kaff gezogen, weil sie den Wunsch verspürte, Menschen wie ihren Eltern zu helfen. Und weil sie das Bedürfnis hatte zu beweisen, daß sie in solchen Verhältnissen zu wirksamer Arbeit imstande war – daß sie anders war als ihre Eltern. Und weil sie sterben wollte.
    »Na gut«, sagte Dr. Berenford, als sie keinen Ton verlauten ließ, »das ist gelaufen.« Anscheinend bereitete die Humorlosigkeit ihres Schweigens ihm Unbehagen. »Jedenfalls bin ich froh, daß Sie da sind. Kann ich irgendwas für Sie tun? Ihnen helfen, sich zurechtzufinden?«
    Linden war drauf und dran, sein Angebot abzulehnen – aus Gewohnheit, nicht aus Überzeugung –, da entsann sie sich des Zettels in ihrer Tasche. Wie infolge einer Eingebung klaubte sie ihn heraus und reichte ihn ihm. »Das hier hat man mir unter die Tür geschoben. Vielleicht sollten Sie mir verraten, was mir womöglich noch alles bevorsteht.«
    Er betrachtete das Dreieck und die Schrift, las kaum vernehmlich ›Jesus ist der Retter‹ ab, seufzte dann. »Eine der Begleiterscheinungen des hiesigen Lebens. Ich gehe in diesem Ort seit vierzig Jahren getreulich in die Kirche. Aber weil ich ein Mann mit qualifizierter Ausbildung und anständigem Einkommen bin, versuchen einige der guten Leutchen hier ständig ...« – er schnitt eine kauzige Grimasse – »mich zu bekehren. Unwissenheit ist die einzige Form von
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