Das Versteck
weitere Schäden an ihrem bereits verbeulten Wagen ein, einschließlich eines kaputten Scheinwerfers.
Auf Hatchs Anweisungen hin folgte Lindsey einer Lieferantenstraße, die um den halben Park herum führte. Zu ihrer Linken erstreckte sich ein hoher Zaun, an dem die knorrigen, borstigen Reste von wildem Wein hingen, der einst den Maschendraht überzogen hatte und dann verdorrt war, nachdem man das Berieselungssystem abgeschaltet hatte. Zur Rechten ragten die Rückwände der verschiedenen Karussells und Achterbahnen auf, die so solide gebaut waren, daß sie nicht so leicht demontiert werden konnten. Es gab auch Gebäude mit phantasievollen Fassaden, die von hinten durch Stützbalken gehalten wurden.
Sie bogen von der Lieferantenstraße ab und fuhren auf einem Weg entlang, der einst als Promenade für die Parkbesucher gedient hatte. Von Wind und Sonne und Jahren der Verwahrlosung lädiert, reckte sich vor Lindsey das stählerne Gerüst des größten Riesenrads, das sie je gesehen hatte, in den Nachthimmel wie das Skelett eines Leviathan, das von unbekannten Aasfressern saubergepickt worden war.
Vor einem riesigen Gebäude an der Seite eines leeren Beckens, das einmal ein großer See gewesen sein mußte, parkte ein Wagen.
»Die Geisterbahn«, sagte Hatch, weil er sie schon einmal, mit anderen Augen, gesehen hatte.
Das Gebäude sah mit seinen drei Dachspitzen wie ein dreimanegiges Zirkuszelt aus. Die Gipswände verfielen leise vor sich hin. Lindsey konnte immer nur einen Ausschnitt des Gebäudes im Lichtkegel ihrer Taschenlampe erkennen, und ihr gefiel nicht ein Stück davon. Von Natur aus nicht abergläubisch – obwohl sie angesichts der täglichen Ereignisse rasch dazulernte –, spürte sie mit untrüglichem Instinkt eine Aura des Todes über der Geisterbahn, genauso wie sie den Kältehauch bemerken würde, der von einem Eisblock ausging.
Sie parkte hinter dem anderen Wagen, einem Honda. Die Insassen mußten den Wagen in größter Eile verlassen haben, denn beide Türen standen offen, und die Innenbeleuchtung brannte.
Lindsey griff nach ihrer Pistole und der Taschenlampe, stieg aus dem Mitsubishi und rannte auf den Honda zu, warf einen Blick ins Wageninnere. Keine Spur von Regina.
Zu Lindseys neuen Erfahrungen gehörte, daß Angst und Furcht nur bis zu einem gewissen Grad wachsen konnten. Jeder Nerv lag bloß. Das Gehirn vermochte keine neuen Daten mehr zu verarbeiten, mithin verharrte es auf dem einmal erreichten Gipfel des Schreckens. Neue Schocks oder neue schreckliche Gedanken steigerten die Angst nicht weiter, weil das Gehirn einfach alte Daten löschte, um Speicherplatz für neue zu schaffen. Sie könnte sich kaum an die Geschehnisse zu Hause oder an die unwirkliche Autofahrt zum Park erinnern; das meiste war verschwunden bis auf wenige Erinnerungsfetzen, und das erlaubte ihr, sich ganz auf das Jetzt und Hier zu konzentrieren.
Im Schein der Wagenbeleuchtung und im Lichtstrahl ihrer Taschenlampe sah Lindsey einen etwa einen Meter langen Strick auf der Erde liegen. Sie hob ihn auf und untersuchte ihn. Er war einmal zu einer Schlinge geknüpft und dann am Knoten durchgeschnitten worden.
»Das muß Reginas Fußfessel gewesen sein«, sagte Hatch. »Er wollte wohl, daß sie selber geht.«
»Und wo sind sie jetzt?«
Hatch schwenkte die Taschenlampe über die trockengelegte Lagune, über drei große, graue, gekantete Gondeln mit prächtigen Bugfiguren bis hin zu dem hölzernen Doppeltor im Sockel der Geisterbahn. Das eine Tor hing schief in den Angeln, das andere stand weit offen. Die Taschenlampe wurde von vier Batterien betrieben, doch reichte ihr Lichtstrahl nicht, um in die gähnende Dunkelheit hinter dem Tor zu leuchten.
Lindsey sprang aus dem Wagen und kletterte über die Einfassungsmauer des Lagunensees. Obwohl Hatch hinter ihr herrief, sie solle warten, vermochte sie nicht mehr zu überlegen oder gar anzuhalten – wie konnte er bloß? – und wurde nur noch von dem Gedanken getrieben, daß Regina sich in der Gewalt von Nyeberns wiedererwecktem wahnsinnigen Sohn befand.
In Lindsey überwog die Angst um Reginas Leben die Sorge um ihre eigene Sicherheit. Doch in dem Bewußtsein, daß sie am Leben bleiben mußte, wenn Regina gerettet werden sollte, schwenkte sie die Taschenlampe hin und her, ließ den Lichtkegel von einer Seite zur anderen wandern und hielt ein wachsames Auge auf die Schatten der Gondeln.
Welke Blätter und Papierfetzen tanzten im Wind, drehten Kreise über dem Boden des wasserlosen
Weitere Kostenlose Bücher