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Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Titel: Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
Autoren: Ulrike Edschmid
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Freie.

VII
    Keiner der sechs Filmstudenten, die sich in den ersten Junitagen auf den Weg machen, ist zum Festival in der italienischen Hafenstadt Pesaro eingeladen. Aber sie fahren trotzdem − in einem alten VW Bus bis an die Adriaküste. Es ist eine spontane Entscheidung. Alle sind in Aufruhr nach den Tagen der Besetzung der Akademie, die sie jetzt nicht mehr betreten dürfen. Wem es gelungen ist, während des Polizeieinsatzes den eigenen Film an sich zu bringen, nimmt ihn mit, in der Hoffnung, ihn auf dem Festival zeigen zu können.
    Philip S. hat die große Blechdose mit dem Einsamen Wanderer dabei. Auch H., ein anderer Busreisender, hat seinen Film mit dem Titel Die Herstellung eines Molotow-Cocktails eingesteckt. Der Film zeigt, wie man Benzin in eine Flasche füllt, sie mit einem benzingetränkten Lappen verschließt und anzündet. In der Flamme taucht das Bürohaus des Verlegers der Bildzeitung auf. Der kurze Streifen war zum ersten Mal im vergangenen Winter während des Tribunals gegen den Verleger gezeigt worden. Seitdem fahndete die Polizei nach dem Film, dessen sie nie habhaft wurde, und nach dem Autor, über den es nur Mutmaßungen gab. Jetzt liegt die kleine Rolle versteckt im Bus unter der Matratze, die man sich teilt. Unterwegs steigt noch der schärfste Widersacher des Einsamen Wanderers zu, der das Kino schon beim Vorspann verlassen hatte. Er kommt ohne einen Pfennig. So teilen sie auch ihr Geld und reichendie Joints weiter, die einer auf Vorrat dreht. Sie fahren los in einem »herrlichen Unfrieden«, wie ein anderer später schreiben wird, aber voller Hochgefühl und hungrig nach Veränderung.
    Die Geschichte dieser kurzen Reise handelt von Grenzüberschreitungen und Verwechslungen, von Gefahr und Entkommen, von Rausch und Allmachtsgefühlen. Auch in Italien sind die meisten Universitäten von Studenten besetzt. Wo immer die Busreisenden haltmachen, geraten sie sogleich in Versammlungen und Demonstrationen und werden, wie in einer Verwechslungskomödie, stets für aus Berlin erwartete wichtige Studentenvertreter gehalten, was ihnen in Venedig die Gastfreundschaft des Komponisten Luigi Nono einträgt und in Pesaro zu einem Hotelzimmer verhilft. Sogleich fordern sie die Verwandlung des Festivals in ein politisches Forum und freien Eintritt für alle.
    Im Kino läuft ein Film mit Bildern des toten Che Guevara. Die Stimmung im Saal heizt sich auf. Die Zuschauer stürzen sich auf dem Platz vor dem Kino in eine Kundgebung. Die Carabinieri, von der christdemokratischen Zentralregierung aus Rom ins kommunistisch regierte Pesaro geschickt, lösen ihre Koppel, an denen die Pistole hängt, und schlagen damit, von Sirenen und Hörnern angetrieben, auf jeden ein, der ihnen in die Quere kommt. Die Busreisenden verschanzen sich im Festivalsaal und bewaffnen sich mit Stuhlbeinen. Als die Polizei Tränengasgranaten hineinwirft, entkommen sie durch einen Nebenausgang. Einer der Busreisenden wird verhaftet, aber die Festivalleitung holt ihn aus dem Gefängnis.
    In Rom treffen sie auf eine kleine Gruppe künstlerischer Anarchisten oder anarchistischer Künstler, die sich in Anlehnung an Pasolinis Film von den großen und den kleinen Vögeln »Uccellini« nennen. Sie sind verspielte Boten kleiner Utopien mit subversiven Aktionen gegen Kirche und Staat, leichtfüßige Helden, die, als Priester verkleidet und mit Schafen im Gefolge, unbehelligt eine Polizeikette durchschritten haben und zu Ostern, erzählt man sich, unablässig pfeifend und zwitschernd einen Kirchturm hinaufgestiegen seien, bis die Polizei sie herunterholte. Als den Busreisenden schließlich das Geld ausgeht, blättern die »Uccellini« in ihrem Adressbuch und suchen die Telefonnummern wohlhabender Römer heraus, die ihnen ihre Kühlschränke öffnen. Mal ist es ein Adeliger in einem Palazzo, mal der Schriftsteller Carlo Levi, der in seinem Buch Christus kam nur bis Eboli seine Verbannung unter Mussolini beschreibt. Der Experimentalfilmer Alfredo Leonardi bietet ihnen ein Bett und einen Schneidetisch an. Philip S. zeigt den Einsamen Wanderer , und anders als die Zuschauer in Berlin überlassen sich die Italiener ganz und gar den Bildern, da sie die Worte ohnehin nicht verstehen.
    Die Euphorie nach der Rückkehr hält noch eine Weile an. Die Filmfestspiele, damals im Sommer, stehen vor der Tür. Die Studenten wollen ihre Filme zeigen und bei der Auswahl mitreden. Sie fordern ein Filmfest für alle und den Rücktritt der Direktion. Wieder wird der
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