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Das Vermächtnis des Templers

Das Vermächtnis des Templers

Titel: Das Vermächtnis des Templers
Autoren: Christoph Andreas Marx
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Wohlwollens und Eurer Güte werten. Aber die Johanniter werden sich in diesen undankbaren Ländereien nicht lange halten. Aus gleichem Grund schloss vor zwanzig Jahren das Dominikanerinnenkloster in Lahde. Dessen Güter fielen an den Abt von Lucca. Aber ich sage das nicht, um Euch an alte Fehden zu erinnern, die uns beide ohnehin nicht trennen, auch wenn ich heute, womit damals niemand hätte rechnen können, Abt eben dieses Konvents bin.
    Das Wetter in Lucca ist schwer erträglich: regnerisch, stürmisch und kalt. Drei Brüder sind bereits erkrankt. Mich selbst plagt erneut die Lungenschwäche. Das hohe Fieber ist zurückgegangen, doch ich leide noch immer an Husten, Atemnot und unregelmäßig auftretenden Kopfschmerzen. Diese Anzeichen sind mir nur allzu gut bekannt.
    Es wird Euch sicherlich wundern, dass Ihr zusammen mit diesem Schreiben ein Buch erhaltet. Und es wird Euch noch mehr überraschen, wenn Ihr es öffnet und zu lesen beginnt.
    Es ist die Geschichte meines Lebens. Seit April habe ich daran geschrieben, wohl wissend, dass der Herr mich bald zu sich nehmen wird. Als Ihr mir in den Tagen des Monats Juno Euren Brief habt zukommen lassen, in dem Ihr um eine Einschätzung der wundersamen Vorgänge zu Köln batet, konntet Ihr nicht ahnen, dass sich meine Gedanken ohnehin längst in dieser Zeit bewegten.
    Es war mein Wunsch, dieses Leben noch einmal zu durchlaufen, um mir selbst Rechenschaft abzulegen. Werde ich die Gnade unseres Herrn finden? Wie armselig sind wir Menschen. Wie kurz ist unsere Zeit, und wie leicht sind die Wege der Versuchung.
    Während ich diese Zeilen schreibe, warte ich auf die Glocke der Mitternacht, bereit für die Vigil.
An diesem Tag werde ich keine weiteren Verpflichtungen haben, so dass ich in der Zeit zwischen den Stundengebeten ein letztes Mal meine Geschichte lesen kann, bevor ich sie an Euch sende, mein hochgeschätzter Freund …

Vigil
    Mit Beginn des Läutens zur Vigil legt Abt Johannes die Feder beiseite. Er erhebt sich, geht die knarrende Treppe hinab, öffnet die Tür des Abtshauses und begibt sich ins Freie. Er hat noch etwas Zeit bis zum Stundengebet. Der Himmel ist heute sternenklar. Kurz nach Mitternacht ist die Kälte besonders intensiv, aber Johannes bleibt vor dem Eingang des gegenüberliegenden Gebäudes stehen, schaut hinauf zu den Gestirnen, erblickt am Südhimmel den Orion, dann den Mars, verliert sich im Anblick der unbegreiflichen Unendlichkeit, des großen Mysteriums, und lässt die Gedanken aufkommen, wie es ihnen gefällt.
    Vigil, das ist die Nachtwache, das erste Stundengebet des neuen Tages. Es ist die Zeit des Nachthimmels und der Dunkelheit. Die Nacht ist ein unergründliches göttliches Rätsel, in das wir alle eingebunden sind.
    Die Dunkelheit hüllt uns ein. Dämonen lauern uns auf. Dürfen wir hoffen? Bleibt mehr von uns als das Nichts? Wird der neue Tag geheiligt sein?
    Der Nachtwind ist der Klang der Vigil. Gemeinsam mit der Dezemberkälte treibt er den Schlaf aus den Gliedern. Er fordert auf, neu anzufangen. Die Vigil ist das Symbol des Erwachens. Aus der Welt des Schlafes, des Traums führt sie in eine neue Wirklichkeit. Es gibt noch einen Neuanfang, einen neuen Tag, ein neues Leben zu beginnen.
    Und zugleich ist die Vigil Zeitlosigkeit. Weil so viel Verwirrung und Ruhelosigkeit in uns ist, mahnt sie uns zum Zuhören. Der Nachtwind ist Musik, der Klang der Welt. Die Vigil macht alles neu. Die Mönche werden heute hören, was kein Mensch zuvor gehört hat. «Siehe, ich mache alles neu.» So sagt Johannes in der Offenbarung.
Johannes hört in sich den eigenen Namen. Das lässt ihn aufmerken. Sein Blick wendet sich ab vom unendlichen Universum. Er betritt das Gebäude, das ganz den Laienmönchen bestimmt ist, durchquert es mit stillen Schritten und gelangt in den Innenhof. Vom Lesegang kommend betritt er die Südpforte der Klosterkirche und findet im Chor die Mönche zum Stundengebet bereit. Dann erfüllt der Gesang die Stille der Kirche. Das Invitatorium erklingt: Ein großer Gott ist unser Herr, ein großer König über alle Götter. In seiner Hand sind die Tiefen der Erde, sein auch die Gipfel der Berge. Sein ist das Meer – er hat es gemacht, sein auch das Festland – seine Hand hat es gebildet. Ziehet ein! Denn er ist unser Gott, und wir sind das Volk seiner Weide und die Schafe in seiner Hand.
    Psalmgesang und Lesung folgen aufeinander. Johannes kann nicht sagen, wie oft er die Vigil gefeiert hat, Tag für Tag. Jahr um Jahr. Wie viel
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